Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 28. April 2008, Heft 9

Gefängnisse

von Klaus Hart, São Paulo

Im Jahre 2003, zum Amtsantritt von Präsident Luis Inacio Lula da Silva, hatten die neue brasilianische Regierung und das gesamte Justizwesen der größten lateinamerikanischen Demokratie eine grundlegende Verbesserung der gravierenden Menschenrechtslage versprochen.

Der Leiter der katholischen Gefangenenseelsorge, der österreichische Pfarrer Günther Zgubic, war skeptisch. »Die haben öffentlich im Jahre 2003 erklärt: Wir dulden Folter und andere grausame, unmenschliche Praktiken nicht mehr. Das taten sie, um die UNO zufriedenzustellen.« Weil die Verbesserungen ausblieben, Folter weiterhin alltäglich war, appellierte die Gefangenenseelsorge immer wieder an die Weltöffentlichkeit, unter anderem an die Vereinten Nationen. »Wir hatten einen Rückschritt. Wir haben die UNO-Kommissionen in die Gefängnisse geführt – das Ergebnis ist jetzt veröffentlicht worden. Alle Gefängnisse sind illegal – und was da drinnen passiert, ist Folter. Es gibt weiterhin alle Varianten. Eine deutsche Frau wurde mit Elektroschock kaputtgemacht, psychisch, nervlich zerstört. Leute werden mit Schlagstöcken zusammengeschlagen, man schiebt Nadeln unter die Fingernägel, preßt Leute mit dem Kopf in Wassereimer. Bis die Polizei befürchtet, er könnte sterben – und dann wird ihm eine Chance gegeben: Willst du sprechen oder nicht?«

Laut UNO-Bericht – und laut Pfarrer Zgubic – werden auf diese Weise Menschen zu Geständnissen gezwungen, bekennen sich viele unter der Folter zu Verbrechen, die sie gar nicht begangen haben. Andere werden solange traktiert, bis sie falsche Zeugenaussagen machen und völlig Unschuldige schwer belasten. »Sogenannte gute, schnelle Aufklärungsarbeit ist in Wirklichkeit die schlechteste. In unseren zwei- bis dreifach überbelegten Gefängnissen sitzen viele Menschen unschuldig. Sie fangen an durchzudrehen, was zu riesigen Rebellionen führt. Überfüllt heißt auch: weniger Essen, weniger ärztliche Betreuung. Wer dort herauskommt, ist traumatisiert und hat nichts mehr zu verlieren. Oft höre ich: Das erste, was ich, was wir machen werden, ist, ein paar Polizisten umzubringen. 2006 hatten wir eine Revolten in São Paulo, Polizisten wurden erschossen, Granaten flogen, Busse angezündet wurden. Diese Sicherheitspolitik bringt nur Rückschritt. Zudem: Wirkliche Verbrecher, von denen es im Polizeiwesen nicht wenige gibt, werden auf höhere Machtpositionen befördert, bis zum Polizeigeneral der Militärpolizei eines Bundesstaats. Für mich ist Brasiliens Strafvollzugssystem purer Wahnsinn!«

Nach wie vor würden, so Zgubic, die katholischen Gefangenseelsorger ausgerechnet in die hochproblematischen Haftanstalten nicht hineingelassen. »Wir sollen nicht merken, daß dort gefoltert wird; Gerichte und Medien sollen nichts von den Untaten erfahren. Per Zutrittsverbot wird der Eindruck erweckt, in solchen Gefängnissen sei alles ruhig. In Wirklichkeit sind es aber Zustände wie in Konzentrationslagern. Es wird immer ärger werden, da gibt’s überhaupt keinen Zweifel.« Laut UNO-Bericht klassifizieren viele Richter Folter lediglich als Machtmißbrauch. »Dann kann der Fall in zwei Jahren verjährt sein«, erläutert Pfarrer Zgubic.

Häufig werden Frauen in überfüllte Männerzellen gesperrt und dann massenhaft vergewaltigt. Zgubic kennt neueste Fälle. All dies hat aber auch Tradition. »In Brasilien wissen wir, daß zum Beispiel im 19. Jahrhundert Frauen und Männer, also die Armen, die Bettler, die Arbeitslosen in den Gefängnissen zusammengepfercht wurden. Wir kämpfen gegen die Kriminalisierung der Armut. Armut wird vom Staat, von den Oberschichten produziert, die sich nie für einen Sozialstaat geöffnet haben. Schuld ist das Wirtschafts- und Konsumsystem, für das ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung schlicht überflüssig ist. Länder, die sich diesem System nicht unterwerfen, wie etwa Kuba, werden mit einem Wirtschaftsboykott überzogen. Während Brasilien als Musterland gilt. Doch absolut klar ist: Der größte Menschenrechtsverbrecher ist der Staat. Für Gesundheit, Schulwesen, für sozialpolitische Programme in den Slums, fürs Justizwesen werden kaum Mittel bereitgestellt. Man fragt sich dann: Wer ist verantwortlich für das Ganze?«

Wegen Bagatelldelikten, etwa des Diebstahls von umgerechnet drei Euro oder von Tellern im Supermarkt, kommen nach wie vor Menschen jahrelang hinter Gitter. Besonders gravierend sei die Lage in Amazonien: »Der Richter am Bistumssitz des aus Österreich stammenden Bischofs Erwin Kräutler in Altamira ist für einen Gerichtsbezirk von etwa tausend Kilometern Durchmesser zuständig. Häufig gibt es keine Rechtsanwälte, keine Aufklärungspolizei, nur die Militärpolizei. Die steckt Leute ins Gefängnis, ohne jegliche Ermittlungen, nur nach Hörensagen oder Privatmeinung des Polizisten. Richtern wird gar nicht mitgeteilt, daß jemand eingesperrt wurde – man weiß gar nicht, wer alles gefangengehalten wird.«

In Brasilien seien zwischen vierzig und siebzig Prozent der Eingesperrten entsetzlicherweise Untersuchungshäftlinge. »Ich kenne einen Gefangenen, der wegen Mordes bereits zehn Jahre in U-Haft sitzt.« Die totale Überfüllung der Haftanstalten nennt Seelsorger Zgubic »strukturelle Folter« – die UNO habe dies im neuen Brasilien-Bericht betont. Brasilianische Menschenrechtsexperten reagierten jüngst empört auf eine Rede von Staatspräsident Lula. Der hatte in Rio de Janeiro gesagt: »Wenn man durch Zusammenschlagen die Leute erziehen könnte, müßte der Bandit das Gefängnis eigentlich als Heiliger verlassen«. Damit, so die Menschenrechtler, habe der Staatschef bestätigt, daß er um die Situation in den Haftanstalten im Bilde sei.