Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 3. März 2008, Heft 5

Versäumter Paradigmenwechsel?

von Heerke Hummel

Mit dem versäumten Paradigmenwechsel in der DDR Ende der siebziger Jahre befaßte sich Anfang Februar eine zweitägige Konferenz der brandenburgischen Rosa-Luxemburg-Stiftung in Potsdam. Insgesamt 26 Redner zeichneten ein Bild von der Situation in der DDR zur fraglichen Zeit, wie man es wohl – nicht nur wegen des 1989 weggefegten Meinungs- und Informationsmonopols der SED-Führung – erst mit größerem zeitlichen Abstand zu überblicken und zu gestalten vermag. Es wurde zwar deutlich, daß um das Jahr 1978 herum einen Paradigmenwechsel notwendig gewesen wäre; aber im Ungewissen blieb, wie tiefgreifend Reformen hätten sein müssen. Und welche Konsequenzen hätten sie dann gehabt? Und hätten diese Konsequenzen (nehmen wir einmal an, die Sowjetunion unter L. I. Breschnew hätte diesen »Neuen Kurs« geduldet oder sogar mitgemacht) nicht vielleicht bedeutet, das große Ziel, eine »sozialistische Gesellschaft« zu errichten, letztlich aufzugeben? War also vielleicht dieses Ziel von vornherein irreal?

So scharf wurden die Fragen in Potsdam denn auch nicht ansatzweise gestellt. Aber muß man sie nicht so scharf stellen? Allerdings waren die Versammelten mit der Feststellung von Siegfried Prokop ziemlich einverstanden, China habe man unter der Ägide von Deng Xiao Ping den Paradigmenwechsel erfolgreich vollzogen. Wieso und inwiefern eigentlich? Indem man ein Ideal als Ziel und alle Theoriedogmen fallenließ und sich ganz pragmatisch den harten Realitäten anpaßte, um das Mindeste in einer globalisierten Welt zu erreichen – im Interesse eines, wenn auch nur wenig, besseren Lebens von Millionen und Milliarden armer Menschen, die von einem noch so schönen Sozialismusbild weder satt noch zufrieden werden? So betrachtet, war der ganze Umschwung 1989/90 in Osteuropa und der Sowjetunion nur ein – verspäteter, vorher versäumter und dann von der Realität erzwungener – Paradigmenwechsel.

Hätte man ihn von Erich Honecker und Genossen erwarten können? Wohl kaum. Denn für die Führung mußte ein Umschwung, wie er sich notwendigerweise hätte vollziehen müssen, die Selbstentmachtung, die Selbstaufgabe bedeuten. Die kommunistischen Führungen in den Sowjetrepubliken waren da in einer wesentlich besseren Situation, weil sie noch nicht unter dem Druck einer bedeutenden inneren Opposition und einer »nationalen Frage« standen. Hinzu kommt, daß sich die deutschen Kommunisten etwas auf die Vordenker Marx und Engels zugutehielten, weil sie Deutsche gewesen waren. Aus deren Analysen und Prognosen hatten sie unerschütterbare Bibelsätze gemacht.

Deren sozialistisches Ideal als Frucht einer materialistischen Weltanschauung und Analyse der Verhältnisse des 19. Jahrhunderts erstarrte in einer – nicht nur im Sinne des Mauerbaus – versteinerten Realität des deutschen Kommunismus, weil die Nachbeter die Theorie von Marx und Engels ihrer dynamischen Lebendigkeit beraubten und so in den reinsten Idealismus verwandelten.

Die Vorträge in Potsdam ließen die Mächtigen der DDR noch einmal in ihrer ganzen Hilflosigkeit – so im Bericht von Jörg Roesler über Beratungen von Honecker, Mittag und Schürer über die Auslandsverschuldung der DDR – erscheinen, aber auch in ihrer dummen Arroganz – im regionalgeschichtlichen Bericht von Volker Pilz über die Ausspähung des Hauses Herrmann von Bergs durch das Ministerium für Staatssicherheit. Es war die von Illusionen getriebene und – mit Hilfe der Statistik – auch Illusionen produzierende Herrschaft von Kleingeistern. Natürlich hielten die wiederum ihre Widersacher für Illusionisten und Klassenfeinde, obwohl Rudolf Bahro, Hermann von Berg und auch die DDR-Kritiker unter den Künstlern stets klarstellten, nicht gegen, sondern für einen – »besseren« – Sozialismus zu wirken. Aus heutiger Sicht muß man wohl zugeben, daß Erich Honecker und Genossen mit ihrer Sturheit mehr Gespür für die Realitäten an den Tag legten als die Reformwilligen, die ja nicht minder einem Trugbild hinterherhechelten.

Hat in der weltweiten Auseinandersetzung zwischen Ost und West wirklich der Westen den Osten besiegt, wie es den Anschein hat? Oder wurden in der Welt nur zwei unterschiedliche Wege – hin zu dem Punkt, an dem wir uns heute, knapp hundert Jahre später, alle gemeinsam befinden – beschritten, entsprechend den unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in Ost und West? Schon 1990 hatte Barbara Sichtermann geurteilt: »Der russische Bär, vor hundert Jahren mit dem Rücken zur Wand stehend zwischen dem imperialistischen Japan und einem weit überlegenen, kriegslustigen und auf Kolonien scharfen kapitalistischen Westen, hat all seine Kraft zusammengenommen, sich auf die Hinterbeine gestellt und unter entsetzlichem Gebrüll eine ideologische Mauer um sein Territorium gezogen, um in deren Schutz fieberhaft an seiner Wettbewerbsfähigkeit zu arbeiten. Alle Welt hat sich von diesem Gebrüll, in dem ständig das Wort ›Sozialismus‹ vorkam, irreleiten lassen, anstatt zu sehen, daß die Russen lediglich versuchten, Anschluß an den westlichen Standard zu finden, um nicht ausgebeutet und kolonialisiert zu werden … Am Anfang der Entwicklung …, die in die stalinistische Tyrannei mündete, stand das unfaire Match: fortgeschrittener, fortschrittstrunkener Westen hier – zurückgebliebener, fortschrittssüchtiger Osten dort, stand die Angst des Schwächeren. Historisch betrachtet, trägt der Westen an all dem, was dann kam, sein Teil Verantwortung. Das vergißt er gern.«

Es wäre kurzsichtig, diese Darlegung nur technisch-ökonomisch zu verstehen.. Auch politökonomisch betrachtet vollzog sich ein im wesentlichen gleicher Prozeß auf zwei unterschiedlichen, konkurrierenden Wegen: die Vergesellschaftung der Produktion und des Eigentums. Im Osten geschah sie durch die radikale, gewaltsame Verstaatlichung, um die Macht und die Herrschaft des Warenwerts, des Kapitals, zu brechen und einem gesellschaftlichen – zentralen staatlichen – Willen freie Bahn zu schaffen. Im Westen löste sich das Privateigentum »von selbst« von der sachlichen Ware und schlüpfte, ein hohes Maß an dezentralisierter Eigenverantwortung der Wirtschaftsakteure gewährend, ganz peu à peu in papierne Anteilscheine, für deren Sicherheit ebenfalls der Staat die allergrößten Anstrengungen unternimmt und für die er mit seinem ganzen Gesetzesapparat bürgt, so daß heute (und schon seit langem) in West wie in Ost – ungeachtet aller unternommenen oder versäumten Paradigmenwechsel, ungeachtet aller Illusionen vom »privaten« Reichtum – sich die Marxsche Erwartung erfüllt hat: Jeder erhält von der Gesellschaft einen Schein, »daß er soundso viel Arbeit geliefert …«

Siehe auch »Warenwert, wo bist du geblieben?« unter www.heerke-hummel.de