Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 31. März 2008, Heft 7

Töte hundert Türken und dann ruh dich aus …

von Uri Avnery, Tel Aviv

In dieser Woche wurde ich an eine alte Geschichte über eine jüdische Mutter erinnert, die sich von ihrem Sohn verabschiedet, der zum Militärdienst in die Zarenarmee gegen die Türken einberufen wurde.

»Streng dich nicht zu sehr an«, ermahnte sie ihn, »töte einen Türken und ruh dich aus. Töte noch einen Türken und ruh dich wieder aus …«

»Aber Mutter,« fragte er, »und wenn der Türke mich tötet?«

»Dich töten?« rief sie aus. »Warum? Was hast du ihm denn getan?«

Ich wurde daran erinnert, als ich Ehud Olmerts Bemerkung las, daß ihn nichts so in Rage gebracht habe wie der Freudenausbruch in Gaza nach dem Angriff in Jerusalem, bei dem acht Studenten der religiösen Yeshiva-Schule getötet worden waren.

Zuvor hatte die israelische Armee im Gazastreifen 120 Palästinenser getötet, die Hälfte von ihnen Zivilisten, unter ihnen Dutzende Kinder. Der Fünf-Tage-Krieg im Gazastreifen – wie ein Hamas-Führer ihn nannte – war nur ein kleines Kapitel im israelisch-palästinensischen Kampf. Das blutrünstige Monster ist niemals satt, und mit dem Fressen wächst nur sein Appetit.

Dieses Kapitel begann mit der »gezielten Liquidation« von fünf ranghohen Militanten innerhalb des Gazastreifens. Die »Antwort« war eine Salve von Raketen. Die »Antwort« auf die »Antwort« war der Einfall der Armee und ein massives Töten.

Ex-General Matan Vilnai sagte kürzlich im Fernsehen, daß die Palästinenser eine »Shoah« über sich selbst bringen würden. Das hebräische Wort Shoah ist in der ganzen Welt bekannt und hat dort eine klare Bedeutung. Vilnais Äußerung breitete sich wie ein Lauffeuer über die ganze arabische Welt. Ich erhielt Dutzende von Telefonanrufen und E-Mails aus der ganzen Welt. Wie soll man Leute davon überzeugen, daß im hebräisch-sprachlichen Alltag Shoah »nur« eine »große Katastrophe« bedeutet, und daß General Vilnai, ein früherer Kandidat für den Posten des Generalstabschefs, nicht der Intelligenteste ist? Er weiß nicht, was das Wort »Shoah« für andere bedeutet, und Olmert versteht nicht, warum man sich in Gaza nach dem Angriff auf die Yeshiva in Jerusalem gefreut hat.

Die Hamas-Leute behaupteten, im Fünf-Tage-Krieg gesiegt zu haben. Was für einen Sieg? Schließlich wurden nur zwei israelische Soldaten und ein israelischer Zivilist getötet – aber 120 Palästinenser, Kämpfer sowie Zivilisten..

Jüngst wurde ein schockierendes Dokument veröffentlicht: David Roses Artikel in Vanity Fair. Er beschreibt in ihm, wie in den vergangenen Jahren US-Beamte der palästinensischen Führung jeden einzelnen Schritt diktierten, bis ins kleinste Detail. Obwohl der Artikel überraschenderweise die israelisch-amerikanischen Beziehungen nicht berührte, ist es klar, daß der amerikanische Kurs mit der israelischen Regierung abgesprochen war.

Warum schockierend? Die Dinge waren im großen und ganzen schon bekannt. In dieser Hinsicht brachte der Artikel nichts Neues: a) Die Amerikaner befahlen Mahmoud Abbas, parlamentarische Wahlen abzuhalten, um darzustellen, daß Bush dem Nahen Osten die Demokratie bringe; b) Hamas gewann überraschend die Wahlen; c) die Amerikaner verhängten über die Palästinenser einen Boykott, um die Wahlergebnisse zu annullieren, d) Abbas wich einen Augenblick von der ihm diktierten Politik ab und schloß unter der Schirmherrschaft (und unter dem Druck) der Saudis ein Abkommen mit der Hamas; e) die Amerikaner machten dem ein Ende und zwangen Abbas, alle Sicherheitsdienste an Muhammad Dahlan abzutreten, den sie für die Rolle eines starken militärischen Herrschers über Palästina ausgewählt hatten, f) die Amerikaner lieferten Dahlan eine Menge Geld und Waffen, trainierten seine Männer und befahlen ihm, einen Militärschlag gegen die Hamas im Gazastreifen auszuführen, g) die gewählte Hamas-Regierung kam diesem zuvor und führte selbst einen bewaffneten Schlag aus.

All dies war im voraus bekannt. Neu daran ist, daß die bisherige Mischung aus Nachrichten, Gerüchten und intelligenten Vermutungen jetzt zu einem zuverlässig dokumentierten Bericht geworden ist, der sich auf offizielle US-Dokumente gründet. Er ist ein Zeichen für die erschreckende amerikanische Ignoranz, die sogar die israelische Unwissenheit über den internen palästinensischen Prozeß übertrumpft.

George Bush, Condoleezza Rice, der zionistische Neokonservative Elliot Abrams und das Sortiment amerikanischer Generäle konkurrieren – was Wissen und Erkenntnisse angeht – mit Ehud Olmert, Zipi Livni, Ehud Barak und unseren Generälen, deren Verständnis gerade bis ans Ende der Kanonenrohre ihrer Panzer reicht.

Die Amerikaner haben inzwischen Dahlan vernichtet, indem sie ihn als ihren Agenten öffentlich gemacht haben – im Sinne von: »Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn«. In dieser Woche verabreichte Condoleezza auch Abbas einen tödlichen Schlag. Er hatte am Morgen verkündet, daß er die (bedeutungslosen) Friedensgespräche mit Israel suspendiere – es war das Mindeste, was er als Antwort auf die Grausamkeiten im Gazastreifen hatte machen können. Rice erhielt diese Nachricht, während sie ein Frühstück in anregender Gesellschaft mit Livni hatte; sie rief sofort Abbas an und befahl ihm, diese Ankündigung zurückzunehmen. Abbas gab auf und zeigte sich so seinem Volk in voller Blöße.

Das einzige Ergebnis des Fünf-Tage-Krieges ist, wenn auch kein Sieg, so doch die Stärkung der Hamas und, daß das Volk sich hinter sie stellt – nicht nur im Gazastreifen, sondern auch in der Westbank und in Ostjerusalem. Doch selbst wenn Israel Erfolg gehabt hätte und Hamas wäre besiegt worden, hätten Abbas und Dahlan nur auf israelischen Panzern als Subunternehmer der Besatzung zurückkehren können. Keine Versicherungsgesellschaft würde mit ihnen eine Lebensversicherung abschließen. Und wenn sie nicht zurückkämen, dann entstünde ein Chaos, aus dem dann wiederum extreme Kräfte entstehen würden, wie wir sie uns nicht vorstellen können.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs/Christoph Glanz, redaktionell gekürzt