Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 3. März 2008, Heft 5

Gier! Gier?

von Albrecht Müller

Das Wort Gier wird seit einiger Zeit immer wieder als Begriff zur Erklärung der Mißstände in den Reihen unserer Führungskräfte benutzt. Nach meinem Eindruck wird damit mehr verdeckt als erklärt. Und häufig und vermutlich ohne bösen Willen wird abgelenkt von den wahren Problemen. Heiner Geißler beklagte schon im November 2004 in einem Beitrag für die Zeit: Die Gier zerfrißt den Herrschenden ihre Gehirne. Neuerdings gebrauchen so sympathische Autoren wie der Wirtschaftschef der Frankfurter Rundschau, Robert von Heusinger oder der Unternehmensberater und Autor Hauke Fürstenwerth das Wort Gier, Fürstenwerth in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung wie in seinem Buch Geld arbeitet nicht. In einem Kommentar der Rheinpfalz wird das Wort Gier gleich haufenweise benutzt, und der ehemalige Daimler-Chef Edzard Reuter beklagt in Interviews zu seinem 80. Geburtstag die umsichgreifende Habgier; in der Tagesschau warnt Christoph Lütgert vor den Gefahren der Habgier und so weiter und sofort.

Ich kann das Wort bald nicht mehr hören. Dabei will ich nicht bestreiten, daß für das Elend, das wir zu beklagen haben, für Steuerhinterziehung von Spitzenverdienern und die Entlassung von Tausenden von Mitarbeitern durch Unternehmen, die riesige Gewinne einfahren, auch die Maßlosigkeit (= Gier) von Managern und Aktionären eine Rolle spielt. Aber das Hauptproblem ist die darin sichtbare Amoralität nicht. Gier ist auch nichts absolut Neues. Damit muß man rechnen. Marktwirtschaft baut in einer gewissen Weise auf einer solchen Moral oder A-Moral auf.

Mit der Inflationierung des Gebrauchs des Wortes Gier wird die Problemanalyse und damit auch die Therapie auf die Ebene der individuellen Verhaltensweisen geschoben. Das reicht bei weitem nicht aus. Und – schlimmer noch – es lenkt ab von den wirklichen Problemen.

Erstens: Wir haben es beim Verhalten unseres Spitzenpersonals mit der Begleiterscheinung der herrschenden Ideologie zu tun. Wenn uns die Gier und ihre Folgen nicht gefallen, dann sollten wir uns mit der neoliberalen Ideologie beschäftigen. Wir sollten diese bekämpfen, statt uns an dem einzelnen Verhalten einzelner Personen festzubeißen.

Zweitens: Die Meinungsführer in unserer Gesellschaft wie auch die in der Politik entscheidenden Personen haben das, was heute Gier genannt wird, an vielen Stellen gefördert, belohnt und gutgeheißen, als das noch anders benannt worden war. Die Meinungsführer einschließlich des damaligen Bundeskanzlers Kohl und bis heute in den Reihen der FDP haben uns immer wieder erzählt, Leistung müsse sich lohnen. Das war die Agitationsparole, mit der hoffähig gemacht wurde, was heute beklagt wird. Zugleich wurde alles niedergemacht, was auf mehr soziale Gerechtigkeit pochte. Der schon erwähnte Heiner Geißler, der für sich in Anspruch nehmen kann, das Wort Gier in besonderer Weise in die Debatte eingeführt zu haben, hat auch das Begriffspaar Sozialneid schüren in die Agitationswelt der Bundesrepublik Deutschland eingeführt. Das war Ende der achtziger Jahre die Formel zur Abwehr von Klagen über Sozialabbau. Diese Formel hatte die gleiche Funktion wie Leistung muß sich wieder lohnen. Ich kann mich daran noch sehr gut erinnern, weil ich damals zum Deutschen Bundestag kandidierte und mich mit dem Vorwurf auseinandersetzen mußte, ich würde Sozialneid schüren, nur weil ich damals schon auf solche Ungerechtigkeiten wie die Wiedereinführung der Kindersteuerfreibeträge zulasten einer Regelung hinwies, die allein das gleiche Kindergeld für alle vorsah.

Drittens: Die Forderung nach besserer Entlohnung für die Besserverdienenden, das heißt die Gier, wurde von den politisch Entscheidenden mannigfach belohnt und verziert. Die Einkommensverteilung wurde auseinander gezogen, und dann wurden die Spitzeneinkommen gleichzeitig entlastet: durch Senkung des Spitzensteuersatzes auf 42 Prozent, durch die Streichung der Vermögensteuer, durch Nichtstun gegen Steueroasen, durch das Laufenlassen von neuen Vorteilen wie Aktienoptionen, durch die Befreiung von Steuern auf Veräußerungsgewinne bei Verkauf von Aktienpaketen von Unternehmen und Unternehmensteilen.

Viertens: Mein Hauptproblem ist nicht die Gier einiger Leute, sondern unsere Ohnmacht im Umgang mit diesen und anderen Erscheinungen. Mitansehen zu müssen, daß ständig so etwas passiert wie in den Fällen, Esser, Ackermann, Zumwinkel, und dann bleibt es bei ein paar Zahlungen, die nicht sonderlich wehtun. Eines unserer Hauptprobleme besteht darin, daß wir uns offensichtlich in Richtung einer feudalen Gesellschaft entwickeln. Die Oberen bedienen sich, und sie vermögen ihre Netze so zu stricken, daß sie auch von der Rechtsprechung nicht mehr ernsthaft bedroht werden können. Publizistisch ohnehin nicht. Die veröffentlichte Meinung haben sie , wenn es darauf ankommt, weitgehend im Sack. Vornehmer ausgedrückt: Sie verfügen über so große finanzielle Mittel, daß es ihnen zumindest in der Regel ein Leichtes ist, über den Einsatz von PR zumindest die politischen Eliten und manchmal auch das Volk stillzustellen.

Fünftens: Bei dieser Feudalisierung spielen eng geknüpfte Netze offensichtlich eine große Rolle: die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, der BDI, die Arbeitgeberverbände und Unternehmensberatungsfirmen: Man kennt sich, man schützt sich, man fördert sich, und man bedient sich. Zumwinkel kam wie viele andere von McKinsey, andere kommen von Roland Berger. Wie ein solches Netz funktioniert, kann man jetzt gerade beobachten bei der Lastenverteilung in Sachen IKB. Die Privaten sperren sich, schieben die Schuld auf den öffentlichen Anteilseigner KfW und laden dort die Hauptlast ab.

Sechstens: Ohnmächtig sehen wir mit an, wie gegen unseren Willen öffentliches Eigentum privatisiert, das heißt zumeist gefleddert wird. Zum Beispiel: Der Wille des Volkes wie auch des einen Partners der großen Koalition in Sachen Privatisierung der Bahn ist klar erkennbar. Und dennoch wird unsanktioniert auf der alten Linie weitergemacht, mit neuen Variationen der Technik des Raubes.. Und jetzt müssen wir auch im konkreten Fall der IKB und beim Fall Zumwinkel erwarten, daß diese Fälle genutzt werden, um öffentliches Eigentum unter den Hammer zu nehmen. Der Fall Zumwinkel wird offenbar benutzt, um die Postbank möglichst schnell und demnächst vielleicht auch weitere Teile der Post AG zu verscherbeln. Der Fall IKB wird vermutlich auch benutzt, um zu privatisieren. Das ist publizistisch damit vorbereitet worden, daß wahrheitswidrig behauptet wurde, im konkreten Fall hätte der öffentliche Eigentümer versagt.

Siebtens: Ohnmächtig müssen wir zusehen, wie wichtige gesellschaftliche Einrichtungen zerstört werden. Das eindrucksvollste Beispiel ist die Zerstörung des Vertrauens und der Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente und damit verbunden die Gefahr von Altersarmut der Einkommensschwächeren. Hier ist doch nicht die Gier entscheidend. Daß Walter Riester mindestens 181000 Euro von Auftraggebern für Beratung und Vorträge kassierte, daß die Wissenschaftler Raffelhüschen, Rürup, Sinn, Miegel, Börsch-Supan so kräftig am Zerstörungswerk verdienen, ist schlimm; schlimmer aber ist das Zerstörungswerk selbst und unsere Ohnmacht gegenüber einer milliardenträchtigen Walze der Propaganda pro Privatvorsorge.

Achtens: Auch andere politische Entscheidungen bleiben trotz nachweisbarer negativer Folgen ohne Sanktionierung: das Scheitern der Hartz-Gesetze I bis III und der gesellschaftspolitische Schaden von Hartz IV, die schlampige Einführung der verkürzten Gymnasial-Schulzeit auf acht Jahre, das militärische Engagement in Afghanistan – Flops und keine Folgen. Das ist um vieles gravierender als Gier.

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