Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 7. Januar 2008, Heft 1

Wir kleinen Kapitalisten

von Joke Frerichs

Ich erfuhr die frohe Botschaft während der morgendlichen Zeitungslektüre: Da stand es – schwarz auf weiß: »Viele Arbeitnehmer und einfache Bürger sind inzwischen längst kleine Kapitalisten.« Diese überaus erfreuliche Mitteilung fand sich in einem Artikel von Peter Hahne (nein, nicht der bekannte Neokonservative vom ZDF), sondern eines Redakteurs vom Kölner Stadt-Anzeiger. Ich gestehe, daß ich für derlei Hinweise überaus empfänglich bin. Was in der Zeitung steht, ist bekanntlich wahr. Erbaulich auch die Nachricht, daß unser Finanzminister Steinbrück den Bankmanagern einmal so richtig die Leviten gelesen habe. Viele seien der Komplexität ihrer Aufgaben nicht gewachsen. Hat der Mann sich in der Veranstaltung geirrt oder ist das schon eine Auswirkung der strikt antikapitalistischen Parteitagsbeschlüsse der SPD; gar des Bekenntnisses zum »demokratischen Sozialismus«?

Und hatte nicht erst kürzlich unser aller Bundespräsident den Managern ins Gewissen geredet, es mit den exorbitanten Gehältern nicht zu übertreiben. Nun ja – von ihm wissen wir ja, daß er die Dinge immer zur Unzeit beim Namen nennt und seine Appelle stets die nachhaltigsten Wirkungen zeitigen. Man reibt sich verwundert die Augen und vermeint die Erschütterung in diesen Kreisen förmlich zu spüren.

Was aber hat nun unseren Redakteur Hahne zu seiner kühnen Behauptung bewogen. Hahne berichtet über eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung, in der festgestellt wird, daß die Nettolohnquote, also der Anteil der Löhne am Volkseinkommen, trotz des sogenannten Aufschwungs erneut gesunken ist. Gegenüber 2006 von 40,5 auf 38,8 Prozent. Die Forscher zeigen, daß die Kaufkraft der Arbeitseinkommen nur noch ein Viertel der gesamten Nachfrage ausmache. Damit sei eine nachhaltige Entwicklung der Binnennachfrage und damit auch von Wachstum und Beschäftigung mehr als zweifelhaft und der vom Export getriebene Aufschwung wegen der erkennbaren weltwirtschaftlichen Risiken äußerst labil.

Der Bericht der Hans-Böckler-Stiftung enthält noch weitere aufschlußreiche Details: Während die besagte Nettolohnquote seit 1960 von 55,8 auf 38,8 Prozent gesunken ist, ist die Lohnsteuerbelastung von 6,3 auf 18,3 Prozent gestiegen. Demgegenüber nahm die Steuerbelastung auf Gewinn- und Vermögenseinkommen von zwanzig auf 7,1 Prozent ab.

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß die Unternehmensgewinne in den vergangenen zehn Jahren sich nahezu verdoppelt haben: von 238,4 Milliarden Euro auf 472,5 Milliarden.

Angesichts dieser beeindruckenden Zahlenreihen stellt denn auch unser Autor lapidar fest, »daß die Ungleichverteilung der Einkommen zugenommen habe. Das ist richtig, bekannt und in der Tat auch ein sozialpolitisches Problem.« Um dann zu der überraschenden Schlußfolgerung zu gelangen: »Doch für die Behauptung, der rückläufige Anteil der Lohneinkünfte am Volkseinkommen drücke automatisch die Kaufkraft der Arbeitnehmer, trifft das schon nicht mehr so ganz zu.« Eine derart einfache Deutung verbiete sich seiner Meinung nach schlicht. »Wirtschaftliche Zusammenhänge sind leider komplexer, als viele wahrhaben wollen. Es bringt wenig, stets den Gegensatz von Kapital und Arbeit zu beschwören.«

Dabei dachte ich, daß die genannten Zahlen eigentlich ganz aussagekräftig seien. Aber dem ist offenbar nicht so. Was ich gänzlich übersehen habe, aber dank der Aufklärung unseres Autors nunmehr weiß, ist: »Der größte Teil der abhängig Beschäftigten bezieht heute auch Einkünfte aus anderen Quellen – ob aus Aktienfonds, Spareinlagen oder aus Versicherungen. Wir sind alle kleine Kapitalisten.«

Also ihr Rentner, Arbeitslosen, geringfügig Beschäftigten, Normalverdiener – und all ihr anderen, die ihr von der »etatistisch grundierten Wohlfühlpolitik« der Großen Koalition profitiert – jetzt mal ran an die Sparschweine und eure sonstigen Revenuequellen. Ganz sicher habt ihr doch noch irgendwo heimliche Einkünfte versteckt: zum Beispiel Mieteinnahmen, Gewinnbeteiligungen, Zinseinkünfte und anderes mehr. Her damit, wir verraten es auch nicht dem Finanzamt.

Vor diesem Hintergrund verstehe ich auch den Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Neue Brief- und Zustelldienste, Florian Gerster (SPD), der Löhne von acht Euro für das Maximum hält. Das ist der Mann, an dessen Reformeifer die Bundesagentur für Arbeit fast kollabierte und deren Folgen noch bis heute spürbar sind. Das ist auch der Mann, der sich als erste Amtshandlung in der Bundesagentur das Gehalt auf 800000 Euro verdoppelte, das er meines Wissens auch nach seiner überaus erfolgreichen Tätigkeit und dem leider viel zu späten Ausscheiden weiter bezog.

Gerster verfügt über tiefe Einsichten in die Grundmechanismen unseres Wirtschaftslebens: »Wenn die Produktivität keinen Lohn von neun oder zehn Euro hergibt, kann man ihn auch nicht zahlen«. Mal abgesehen davon, wie er die »Produktivität« seiner Briefträgern mißt – diese Leute verdienen bei einer 40-Stunden-Woche doch immerhin 320 Euro (das Trinkgeld nicht eingerechnet). Damit lassen sich doch bei etwas gutem Willen Aktien kaufen oder Zinserträge erwirtschaften. Oder auch – wofür neuerdings auf der ersten Seite meiner Tageszeitung geworben wird: die Riester-Rente einschließlich der bis zu 51 Prozent staatlichen Förderung sichern. Wobei diese, so ist dem Kleingedruckten zu entnehmen, von der jeweiligen »Lebenssituation« abhängig ist. Das meint wohl: Wer viel verdient, bekommt auch einen höheren staatlichen Zuschuß.

Man sieht: Meine Tageszeitung bietet so einiges. Schlagzeile heute: »2008 wird Strom richtig teuer«. Während also auf diese Weise »unsere Lohnnebenkosten« für Strom, Gas, Benzin, Grundnahrungsmittel und so weiter steigen, lohnt es sich doch wenigstens für die vier Energie-Monopolisten, die sich seit dem Jahr 2000 bei den Gaspreisen mit einer bescheidenen Steigerungsrate von 76 Prozent und beim Strompreis um noch bescheidenere 46 Prozent zufrieden gegeben haben. Also sage keiner, Privatisierungen brächten nichts. Von daher versteht sich von selbst, daß jegliche Polemik gegen die Bahn-Privatisierung reine Ideologie ist.

Obwohl meine Zeitung täglich einiges Erbauliche bereithält, freue ich mich schon jetzt auf die diesjährigen Weihnachtsansprachen. Vor allem die unseres Präsidenten. Das ist halt das Schöne an dieser Jahreszeit, daß die Gemüter empfänglich für Märchenstunden werden. Ich hoffe nur, daß er unsere Eliten in Wirtschaft und Politik nicht allzu hart anpackt. Was wären wir schließlich ohne sie!