von Klaus Hart, São Paulo
Brasiliens Gastfreundschaft ist sprichwörtlich, die Pressefreiheit jedoch etwas beschränkt: Engagierten Journalisten droht der Scheiterhaufen. Nur noch wenige wagen, über die skandalösen Verhältnisse in den Slums zu berichten. Unten, an den Stränden von Copacabana und Ipanema, entspannen sich mit all den ausländischen Gästen auch Touristen, Diplomaten und NGO-Leute aus Deutschland. Doch schon in Sichtweite, oben in den Hangslums von Rio, lodern seit Jahrzehnten regelmäßig Scheiterhaufen, auf denen Menschen ermordet werden. Banditenkommandos stapeln Autoreifen über die gefesselten Opfer, übergießen sie mit Benzin, entzünden ein Streichholz und verbrennen sie bei lebendigem Leib. Microonda, Mikrowelle, wird das Verfahren zynisch genannt.
In der größten Demokratie Lateinamerikas hat die neofeudale Herrschaft des organisierten Verbrechens über erhebliche Teile der brasilianischen Städte rechtsfreie Zonen geschaffen, aus denen der Staat fast völlig verdrängt wurde. Recherchen von Journalisten werden mit brutaler Gewalt behindert. Von Pressefreiheit kann keine Rede sein. Journalisten, die die Aktivitäten der Banditenkommandos in den Slums kritisieren, sind Morddrohungen und -anschlägen ausgesetzt. 2002 wurde der bekannte Fernsehreporter Tim Lopes bei einer Recherche gekidnappt und per Mikrowelle bestialisch liquidiert.
Seine Kollegin Carla Rocha vom Medienkonzern Globo, eine der führenden investigativen Journalistinnen des Tropenlandes, hat jetzt gemeinsam mit ihrem Team für eine Artikelserie über die Slum-Diktatur den wichtigsten brasilianischen Menschenrechts- und Medienpreis erhalten. Der Premio Vladimir Herzog erinnert an einen jüdischen Journalisten, der vom brasilianischen Militärregime ermordet wurde.
Kurz vor der Auszeichnung in der Megametropole São Paulo hatte in Paris die Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen auf ihrer neuesten Rangliste über Medienfreiheit Brasilien vom 75. Platz im Vorjahr auf die 84. Position herabgestuft. Denn Gewalttaten gegen brasilianische Journalisten nehmen deutlich zu. In keinem Land der Erde sind zudem mehr Gerichtsprozesse gegen Journalisten im Gang. Erst vor kurzem wurde an der Peripherie Brasilias ein Attentat auf den Reporter Amaury Ribeiro verübt, der wie Carla Rocha eindringliche Analysen über die Slum-Diktatur publizierte. Ribeiro wurde schon lange bedroht.
»Eine solche Serie zu schreiben, ist für mich auch Kampf für Menschenrechte«, sagt Carla Rocha gegenüber Berliner Journalisten zu ihren Motiven. »Millionen leben in einer grauenhaften Realität, die viele Bessergestellte hier in Brasilien und auch im Ausland einfach nicht sehen wollen, einfach verdrängen. Ich kann das nicht. Ich will diese Zustände ändern, wenigstens dazu beitragen.«
Die Serie Os Brasileiros que ainda vivem na Ditatura (Brasilianer, die noch in der Diktatur leben) macht fassunglos, verstört angesichts der auch von deutschen Medien und der Tourismuswerbung massiv gepflegten Brasilienklischees. »In diesen Slumregionen der brasilianischen Millionenstädte«, so Carla Rocha, »gelten weder Gesetz noch Verfassung, nur das Diktat bewaffneter Gruppen. Der Staat ist nicht präsent und läßt zu, daß dort Verbrecherorganisationen, Gangsterbosse und paramilitärische Milizen die Regeln gewaltsam bestimmen. Wer sich den Normen widersetzt, wird mit dem Tode bestraft, zerstückelt, lebendig verbrannt – auf diesen Microondas aus Autoreifen. Folter ist gängige Praxis – alles eine mittelalterliche Barbarei.«
In Deutschland begeistern sich viele an Rap, HipHop, Theater aus den Rio-Slums und halten dies für eigenständige, genuine, unabhängige Kulturproduktion. »Die gesamte Favela-Kultur wird heute vom organisierten Verbrechen kontrolliert und zensiert. Sogar die Telefongespräche, die E-Mails werden überwacht.« Das Protestpotential der Elendsviertel werde erstickt, jede Politisierung der Slumbewohner verhindert – ganz im Sinne der Machteliten. Carla Rocha belegt in ihrer Serie, daß Gewalt heute in Brasilien viel mehr Menschen trifft als unter dem Militärregime. Die Zahl der Verschwundenen ist viel höher als in den 21 Jahren der Diktatur.
Seit Tim Lopes in der Mikrowelle starb, gehen Rios Journalisten nicht mehr in die Slums hinein. »Recherche ist sehr schwierig geworden, da wir das Leben unserer Interviewpartner – und unser eigenes – nicht gefährden wollen. In unserer Serie wurde der Präsident einer Bewohnerassoziation genannt, der uns Informationen gab – jetzt haben sie ihn ermordet. Selbst fern der Slums ist unser Lebensrisiko hoch und schwer kalkulierbar. Da ich gegen die Interessen der Verbrecherbanden handele, muß ich ständig Sicherheitsregeln einhalten: Routineabläufe im Alltag vermeiden. Aufpassen, ob ich verfolgt werde. Kontakte nur zu vertrauenswürdigen Personen halten«, beschreibt Carla Rocha ihr Leben.
Bei lediglich etwa doppelt so hoher Einwohnerzahl wie Deutschland werden in Brasilien jährlich über 55000 Menschen ermordet. Nicht einmal fünf Prozent der Fälle werden aufgeklärt. Carla Rocha ist bedrückt, daß die in ihrer Serie genau dokumentierten Menschenrechtsverletzungen im Ausland keinerlei Echo fanden. »In Rio de Janeiro ist es unmöglich, all diese Vorgänge, diese Tatbestände nicht wahrzunehmen. Daher finde ich es traurig, daß es dafür kein internationales Interesse gibt. Denn internationaler Druck ist am wichtigsten, damit sich die Lage ändert.«
Die Möglichkeit, hinzuschauen, besteht. Carla Rochas Kollege, der mehrfach preisgekrönte Fotograf Rogerio Reis, stellt derzeit im Pariser Haus der europäischen Fotografie eine schockierende Bildserie über jene modernen Scheiterhaufen Rio de Janeiros aus, mit denen auch Millionen von Slumbewohnern eingeschüchtert werden sollen. Bei der nächsten Berlinale wird die Microonda im brasilianischen Beitrag Tropa de Elite in allen Details zu sehen sein. Daß da Menschen gefoltert, in Femegerichten zum Tode verurteilt und schließlich verbrannt werden – das darf man doch nicht hinnehmen. Der Fernsehjournalist Tim Lopes, der dieses Schicksal erlitt, war mein enger Freund. Ich will mithelfen, diese Zustände zu beseitigen. Ich will die ganze Welt aufmerksam machen. Der brasilianische Staat hat sämtliche Machtmittel, um diese Barbarei sofort zu beenden – doch dazu fehlt politischer Wille.«
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