Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 24. Dezember 2007, Heft 26

… zeigt her eure Schuh

von Martin Nicklaus

Die Gesellschafter, eine, wie es auf ihrer Internetseite heißt, gemeinsame Initiative von Aktion Mensch und zahlreichen Kooperationspartnern, plakatieren mit ihrer Ahnungslosigkeit die Stadt: »Arm = Chancenlos?« und »Herkunft = Zukunft?« fragen sie. Zur Beantwortung reichen andere Satzzeichen, in Anlehnung an Wir sind Helden: »Ich werd die schlechtesten Sprayer dieser Stadt engagieren, damit sie die Plakate mit Ausrufezeichen beschmier’n.« Nachdem somit das Fenster zur Realität aufgestoßen und der belebende Wind der Aufklärung eindringt, können sich die Gesellschafter, ganz besonders jene diplomierte Sozialpädagogin, die auf entsprechender Internetseite als einzige Erklärung für die Vielzahl der Armen eine Art von »Die wollen das so« anbietet, getrost in eine längere Kaffeepause verabschieden. (In der sollten sie Annett Mängels – die Ausrufezeichen begründenden – Artikel Elitäre Exzellenz lesen.)
Regierende und Claqueure dagegen sind gerade in Sektlaune, feiern ein ihnen in den Schoß gefallenes Wirtschaftswachstum samt scheinbarer Belebung des Arbeitsmarktes. Derweil geht die im Bundestag eingebrachte Petition mit der Forderung, die Arbeitslosenzahl doch bitte derart anzugeben, daß man danach auch weiß, wie viele Arbeitslose es wirklich gibt, unter. Den spitzfindigsten Kommentar zu Wachstum und Arbeitslosenstatistik liefert Albrecht Müller auf den NachDenkSeiten.de. Hätten wirklich mehr Menschen relevant bessere Einkommen, müßte sich das auf die Nettolohnsumme auswirken und die Kaufkraft beleben. Statt dessen sinkt der Einzelhandelsumsatz. Suppenküchen verzeichnen dagegen regen Zulauf.
Eine ernsthafte Schaffung von Stellen bedürfte, wie Goldman-Sachs-Chefökonom Jim O’Neill schon 2004 erklärte, einer Stärkung des Binnenmarktes, von dem rund achtzig Prozent der Arbeitsplätze abhängen. Doch das Gegenteil geschieht mit zum Teil brachialen Mitteln wie der Mehrwertsteuererhöhung oder subtilen Preissteigerungen, ausgelöst durch Privatisierungen – Beispiel Energiewirtschaft – oder durch die Gesetzgebung – Beispiel Agrospritbeimischung mit dem daraus erwachsenen Irrsinn, auf Äckern Treibstoff statt Lebensmittel anzubauen.
Langsam haben die Bundestagsabgeordneten mitbekommen, daß sinkende Einkommen keine Konjunktur bewirken und sich deshalb erst einmal selber die Diäten erhöht. Eine längst überfällige Anhebung des Existenzminimums entfällt dafür, und die des Kindergeldes findet vielleicht, mal sehen, na jedenfalls nicht dieses und nächstes Jahr statt. Nebenbei läuft eine Nebeldiskussion um den Mindestlohn. Den gibt es auf dem Bau bereits. Er liegt bei 12,50 Euro im Westen, und mit einiger Faszination stellte die tagesschau fest: Gearbeitet wird für 2,89 Euro. Auf kabel eins konnte das Publikum drei deutsche Maurer begleiten, die gegeneinander in Spanien um einen Job konkurrierten, der ihnen monatlich 1300 Euro bescheren sollte.
Will man sich der realen sozialen Situation etwas nähern, erhalten 2007 andere Zahlen eine Bedeutung: siebeneinhalb Millionen Menschen auf Stütze, zweieinhalb Millionen Kinder in Armut, 410000 Obdachlose, über 300000 fehlende Lehrstellen, rund hunderttausend Privatinsolvenzen, sechseinhalb Millionen Minijobs, soweit sich das Bundesamt für Statistik nicht gerade wieder um zwei Millionen verrechnete.
Statt der Einfachheit halber Robert von Heusingers Vorschlag aufzugreifen und Schecks an die Bürger zu verteilen, steigern die komplett auf Export fixierten Koalitionäre Armut durch den sagenhaft schizophrenen Akt der Rente mit 67 oder zuletzt per Elterngeld, das denen, die es am nötigsten brauchen, die Hälfte der bisherigen Unterstützung raubt.
Kinder gelten inzwischen als Armutsrisiko. Wie armselig ist eine Gesellschaft, in der das gilt!
Doch selbst die halbierte Unterstützung befand ein Kommentator des IFO-Institut für zu hoch, meinte, damit würden sich die Menschen behaglich einrichten. Oswald Metzger geht einen Schritt weiter und hackt verbal auf die Ärmsten ein, sie seien »träge und antriebsarm«,, »lernen nichts, verdummen buchstäblich« und werden am Ende fett. Nichts lernen und dann noch verdummen stellt ja im Gegensatz zu Metzgers Äußerungen schon eine intellektuelle Leistung dar. Ihm sei die Studie über die Marienthaler Arbeitslosen empfohlen, aus der hervorgeht, was plötzlich über sie hereinbrechende Erwerbslosigkeit aus Menschen macht.
Auf der anderen Seite der Medaille stehen vielfältigen Gewinnausschüttungen an die Gutbetuchten: Geschenke per Steuererleichterung oder Privatisierung, Beraterverträge, Kreditaufnahme, lasche Steuerprüfung von Einkommensmillionären. Via Steuerhinterziehung verliert der Staat jährlich einen zweistelligen Milliardenbetrag. Seine ganze Autorität richtet sich gegen Bedürftige. Hätte Oswald Metzger Charakter, Format, Stil, Selbstachtung, Anstand, Würde, Verstand, Mut oder irgend etwas in dieser Richtung – ich weiß, das ist ein kühner Gedanke – müßte er nicht gegen dieses Ungerechtigkeit zu Felde ziehen?
Karl Lauterbach, SPD-Bundestagsabgeordneter, zeigt mehr Rückgrat und schreibt, der Zweiklassenstaat protegiere die Privilegierten auf Kosten der Armen, die bei Bildung, Gesundheit, Arbeit und Rente immer hintanstehen. Christoph Butterwegge ergänzt: »Wer über den Reichtum nicht reden will, sollte auch von der (Kinder-)Armut schweigen.« Volkswirtschaftler Karl Georg Zinn sieht, »daß zwischen Reichtum und Armut ein dialektischer Zusammenhang besteht, Reichtumsakkumulation auf verschiedenen Wegen Armut quasi produziert.« Womit wir wieder bei Marx angekommen sind: »Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol.«
Ganz im Arm-Reich-Kontext stehen der Ausbau des Sicherheitsstaates und die Forderung nach dem Einsatz der Bundeswehr gegen Bundesbürger, der per Tiefflieger über den Köpfen von G8-Demonstranten bereits erprobt wurde. Schaut man sich die oben genannten Zahlen der Benachteiligten an, erkennt man deren Armeestärke. Sollten die sich dessen bewußt werden, endet die Ruhe.
Marita Vollborn und Vlad Georgescu erahnen im Brennpunkt Deutschland bereits Zeichen bevorstehender Revolten. Bismarck wollte die seinerzeit verhindern. Er führte Sozialgesetze ein, um den Elenden etwas zu geben, daß sie etwas hätten, das sie außer ihren Ketten verlieren könnten. Anders in Ruanda. Hinter dem dumpfen Völkermord der Hutu an den Tutsi standen, das wird gerne ausgeblendet, soziale Ungleichheiten. Jared Diamond zitiert in seinem Buch Kollaps einen überlebenden Tutsi: »Die Menschen, deren Kinder barfuß zur Schule gehen mußten, brachten jene um, die ihren Kindern Schuhe kaufen konnten.«
Da könnten Die Gesellschafter bald eine neue Frage stellen: »Tragen ihre Kinder Schuhe?« oder in ihrer Diktion: »Schuhe = Tot sein?«