Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 12. November 2007, Heft 23

Zwölf Jahre später

von Uri Avnery, Tel Aviv

Der Präsident der Knesset lud mich ein, an einer Sondersitzung des Parlaments teilzunehmen, die dem Gedenken des 12. Jahrestages der Ermordung Yitzhak Rabins gewidmet sein sollte.
Ich kämpfte mit mir, ob ich diese Einladung annehmen sollte. Einerseits wollte ich den Menschen, und das, was er in seinen letzten Jahren erreicht hatte, ehren. Ich mochte ihn. Andererseits hatte ich keine Lust, mir die Lobreden von Shimon Peres anzuhören, des Mannes, der vorgab, auf Rabins Weg weiterzugehen – der dann aber das Oslo-Abkommen aus reiner Feigheit begrub. Noch weniger wollte ich mir die Lobhudelei von Ehud Olmert anhören, einem der Leute, der die Hetzkampagne gegen das Oslo-Abkommen und ihre Initiatoren anführte. Schließlich entschied ich mich, fernzubleiben und nicht an dieser Orgie frömmelnder Heuchelei teilzunehmen.
Über Rabin ist vieles zu sagen: über den jungen Yitzhak, der sich der Palmach anschloß – der »regulären« Truppe vor der Staatswerdung; über den Kommandeur, der Araber im 1948er Krieg aus ihren Häusern vertrieb; über den Generalstabschef, der uns nach dem Sechstagekrieg aufrief, die Toten des Feindes zu ehren; über den Ministerpräsidenten, der für das Bildungswesen mehr tat als irgendeiner seiner Vorgänger und Nachfolger; über den Ministerpräsidenten, der mir erlaubte, meine geheimen Kontakte mit PLO-Führern fortzuführen, als dies noch ein schweres Verbrechen darstellte; über den Verteidigungsminister, der die Soldaten dazu aufrief, »den Palästinensern die Arme und Beine zu brechen« – ein Befehl, der dann auch genau so durchgeführt wurde; über den Mann, der die PLO anerkannte und Yasser Arafat die Hand schüttelte.
Er war all dies. Mehr als all dieses war er aber der typische Vertreter meiner Generation, der »Generation von 1948«. Und es war kein Zufall, daß diese nach einem Krieg definiert wurde. Es war die Ära der Unschuld. Die Unschuld der Kämpfer und des Yishuv, der hebräischen Gesellschaft im vorstaatlichen Palästina. Im Rückblick erscheinen die Ereignisse jener Zeit – die Aktionen der Untergrundorganisationen, die Kriegsoperationen – in einem anderen Licht, es ist ein Bild mit viel Schatten. Es muß aber daran erinnert werden: Als diese Ereignisse geschahen, sahen sie für uns ganz und gar anders aus.
Rabin personifizierte die Unschuld seiner Generation, die von ganzem Herzen glaubte, ihr Leben für eine gerechte Sache zu geben, gerechter als jede andere: für die Existenz des Yishuv, für die Rettung der Juden Europas, für den Kampf für nationale Unabhängigkeit.
Diese Generation idealisierte einen gewissen Persönlichkeitstyp, Sabra genannt – wörtlich übersetzt: eine stachelige Pflanze. Der Sabra galt als aufrecht, physisch wie auch psychisch, frei von Komplexen der »Exil«-Juden – »exilisch« war der Ausdruck größter Beleidigung in unserm Wörterbuch. Der Sabra war ehrlich, wahrheitsliebend, praktisch, natürlich, jemand, der immer schnell zur Sache kommt, hohle Phrasen und theatralisches Getue verachtet.
Yizhak Rabin war der prototypische Sabra: ein hübscher junger Mann, der seine privaten Ambitionen zurückstellte – nämlich das Ingenieurstudium der Hydraulik –, um der Nation zu dienen, um ein Kämpfer zu werden, um die Kämpfer zu kommandieren, um praktische Dinge zu vollbringen und die Diskussion über die Ideologie den alten Leuten zu überlassen.
Er war bekannt für seinen »analytischen Verstand«; denn er hatte die Fähigkeit, eine vorgegebene Situation zu analysieren und praktische Lösungen zu finden. Die andere Seite der Münze war der Mangel an Phantasie. Er löste reale Probleme, konnte sich aber keine andere Realität vorstellen. Abba Eban, der ihn nicht ausstehen konnte, sagte mir in seiner boshaften Art: »Analyse bedeutet: auseinandernehmen. Rabin kann die Dinge auseinandernehmen – aber er kann sie nicht wieder zusammensetzen.«
Wenn er 1970 gestorben wäre, hätten wir ihn nur als Soldaten in Erinnerung, als erfolgreichen Brigadekommandeur des 1948er Krieges, als den besten Generalstabschef, den die israelische Armee je hatte, als den Architekten des unglaublichen Sieges des Sechstagekrieges. Aber das war nur ein Kapitel seines ereignisreichen Lebens. Dann geschah mit ihm etwas Seltsames: Im Alter von siebzig Jahren tat er etwas, wozu sogar Dreißigjährige im allgemeinen nicht in der Lage sind: Er änderte sein Weltbild vollkommen und wandte sich von Gewißheiten ab, die bis dahin sein Leben bestimmt hatten.
Als er 1969 als israelischer Botschafter in Washington war, sprachen wir das erste Mal miteinander über das palästinensische Problem. Er verwarf die Idee des Friedens mit den Palästinensern vollkommen. Danach trafen wir uns von Zeit zu Zeit – in seinem Büro, in der Residenz des Ministerpräsidenten, in seiner Privatwohnung und bei Partys – und immer wieder kamen wir auf das palästinensische Problem zu sprechen. Seine Haltung dazu blieb negativ.
Deshalb kann ich ermessen, wie ungewöhnlich sein ideologischer Wandel war. Vielleicht habe auch ich dafür einige Samenkörner gestreut. Er selbst erklärte mir später, daß eine Reihe logischer Schlußfolgerungen zu dieser Wandlung geführt hätten: Als er Verteidigungsminister war, habe er sich mit lokalen palästinensischen Persönlichkeiten getroffen. In Gesprächen unter vier Augen seien sie zugänglich gewesen, doch wenn sie als Gruppe auftraten, waren sie hart, denn sie erhielten, wie sie ihm vertraulich sagten, ihre Anweisungen von der PLO.
Dann kam die Madrid-Konferenz. Israel gab dem Druck nach und war einverstanden, mit einer jordanischen Delegation zu verhandeln, die palästinensische Mitglieder einschloß. Einmal dort, weigerten sich die Jordanier jedoch, über das palästinensische Problem zu reden, und so wurden die palästinensischen Mitglieder praktisch eine eigene unabhängige Delegation. Faisal Husseini, ihr wirklicher Führer, durfte nicht in den Konferenzraum, weil er in Jerusalem lebte. Also ging die Delegation immer wieder einmal in den anderen Raum, um sich mit ihm abzusprechen, und am Ende jedes Tages erzählten sie den Israelis, daß sie mit Tunis telefonieren müßten, um Instruktionen von Yasser Arafat zu bekommen.
»Dies war für mich einfach zu lächerlich,« sagte Rabin in seiner ehrlichen Weise zu mir. »Wenn alles irgendwie von Arafat abhängt, warum sollte man dann nicht mit ihm direkt verhandeln?« Das war der Hintergrund für Oslo.
Warum landete Rabins Oslo-Schiff auf einer Sandbank? Ich glaube, daß Rabin an vielem selbst schuld war: Er wollte wirklich einen Frieden mit den Palästinensern erreichen. Aber er sah keinen Weg zu diesem Ziel, und er hatte kein klares Bild von diesem Ziel. Die Wende, die er vollzog, war zu schroff. So wie die israelische Gesellschaft im allgemeinen war auch er nicht in der Lage, sich vom einen zum andern Tag von den Ängsten, dem Mißtrauen, dem Aberglauben und den Vorurteilen zu befreien, die sich im Laufe von 120 Jahren des Konfliktes angesammelt hatten.
Deshalb scheute er vor dem entscheidenden Manöver, das das Oslo-Schiff sicher hätte im Hafen landen lassen können, zurück: den Schwung der Ereignisse auszunützen und Frieden mit einer kühnen und schnellen Maßnahme zu erlangen. Er kannte das berühmte Wort von David Lloyd-George nicht, das dieser prägte, als es um den Frieden mit Irland ging: »Man kann einen Abgrund nicht mit zwei Sprüngen überqueren.«
Das Endziel war im Oslo-Abkommen nicht ausgesprochen worden. Die beiden entscheidenden Wörter fehlten: »Palästinensischer Staat«. Diese Lücke mußte zum Kollaps führen.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, Christoph Glanz, redaktionell gekürzt