Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 26. November 2007, Heft 24

Verrechnet

von Holger Politt, Warschau

Es bleibt dabei. Seit 1988 ist es keiner Regierung Polens gelungen, nach Parlamentswahlen erneut das Mandat für die Regierungshebel zu erhalten. Nach spätestens vier Jahren Regierungszeit geht es im besten Fall zurück auf die Oppositionsbänke. Daran vermochte auch Jaroslaw Kaczynski nichts zu ändern, obwohl er das Glück zu einem für seine Partei durchaus günstigen Zeitpunkt mit vorgezogenen Parlamentswahlen zu erzwingen versuchte. Zumindest sollte PiS nach 2005 zum zweiten Mal stärkste Partei werden, was Kaczynski die Chance eröffnet hätte, die Amtsgeschäfte fortführen zu können. Seine Rechnung war bestechend klar, doch haben die Wähler ihm letztlich einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht.
Seine Wahlstrategen hatten errechnet, daß fünf Millionen Wählerstimmen ausreichen würden, um den ersten Platz zu erreichen. Für PiS stimmten am 21. Oktober tatsächlich 5,2 Millionen Menschen – sage und schreibe zwei Millionen mehr als 2005! Noch nie hat eine Regierungspartei so kräftig gewinnen können; doch unter dem Strich blieb eine eklatante Fehlrechnung der eigenen Strategen stehen.
Denn die der Rechnung zugrundegelegte Wahlbeteiligung von knapp unter oder höchstens 50 Prozent wurde zwar in den PiS-Hochburgen, also im Osten und Südosten des Landes, in den vielen Kleinstädten und auf dem Lande, »eingehalten«. Aber die Großstadt »hielt sich nicht« an das Szenario und nahm auf – wie man hierzulande gern betont – europäischem Niveau an der Wahl teil. In Warschau – mit über siebzig Prozent Wahlbeteiligung! – gingen gegen Abend in einzelnen Wahllokalen sogar die Stimmzettel aus, was zur Folge hatte, daß die ersten Hochrechnungen am Wahltage mit fast dreistündiger Verspätung erst gegen 23 Uhr veröffentlicht werden konnten.
Jedermann wußte da bereits, daß in dem sich sonst so korrekt gebenden PiS-Staat Unerhörtes passiert sein mußte. Das Spektakel war vorbei. Obwohl die PiS in den Großstädten im Schnitt 25 Prozent der Wählerstimmen geholt hatte, wurde hier über die in dieser Deutlichkeit nicht für möglich gehaltene Niederlage entschieden. Seit den Regional- und Lokalwahlen 2006 war den PiS-Strategen klar, daß in den Großstädten bei genau dieser Zahl Schluß sein würde. Der Rest, so das Kalkül, müsse in den Klein- und Mittelstädten, auf dem Lande, also in der Provinz geholt werden.
Auch deshalb war ein gut lesbares, verständliches, zugleich deutlich polarisierendes Programm vonnöten gewesen. Jaroslaw Kaczynski verstand sich als Verfechter des authentischen, des aufrechten, des woanders belächelten und häufig mißverstandenen Polens. Er sah dieses katholisch und konservativ, bis ins Knochenmark auf die Werte von Tradition und Heimat eingeschworen. Alle anderen erklärte er für suspekt, sie waren abwechselnd Elite, Geschäftemacher, korrupt und moralisch gesehen eben nicht das ganz richtige Polen. Daß er in dieser selbstgewählten Rolle mitunter recht komisch wirkte, ging ihm nie auf. Er sah sich im Recht und stritt mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln für die Gerechtigkeit.
Diese Donquichotterie hielt genau bis zur ersten Hochrechnung, mit der sich Kaczynskis Traum eines neuen Polens in Luft auflöste.
Das Ergebnis ist ernüchternd, denn, genau besehen, zahlt Polens ehemaliger Premier nun die Zeche für jenen Husarenritt, der ihn vor zwei Jahren an die Machthebel gebrach hatte. Der Sieger nimmt alles, tönte er damals – und hatte doch nur ganze 27 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen hinter sich. Der Verlierer bekommt nichts, so nunmehr die Umkehrung, auch wenn gar nicht abgestritten werden darf, daß die Rechtskonservativen in ihrem Wählerspektrum enorme Gewinne erreichten.
Der Verlierer heißt Jaroslaw Kaczynski; er ist für seine Partei PiS nunmehr zum größten Hindernis geworden, um dem rechtsliberalen Wahlsieger PO wenigstens die verlockende Verfassungskoalition anbieten zu können. Das nämlich ist die Zweidrittelmehrheit, mit der die geltende Verfassung Schritt für Schritt mit Parlamentsbeschlüssen ausgehebelt werden könnte. Das Gerede von den wirklich wichtigen Lebensfragen des Landes, die durch eine Regierungskoalition nicht gelöst werden könnten, zielt in letzter Instanz auf die Ablösung des Verhältnis- durch ein Mehrheitswahlrecht, die von PO und PiS bereits 2005 auf die Agenda gehoben worden war. Einstweilen stört – ganz gegen seinen eigenen Willen – nur Jaroslaw Kaczynski die Umsetzung solcher Überlegungen. Gott erhalte dem Lande diesen Mann!