Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 12. November 2007, Heft 23

Fitness

von Wolfgang Haible, Peking

Wie viele traditionelle Unternehmen expandiert auch das meines Meisters des Wing Chun, einer asiatischen Kampfkunst. Er schafft »Kettenläden«. Ein erster Laden ist jetzt in meiner Nähe entstanden. Der Meister kommt seiner Klientel, Studenten und Ausländer – im wahrsten Sinne des Wortes –, entgegen, da Chaoyang, wo er wohnt, etwas weit entfernt ist.
Für sein – nun kapitalistisches – Unternehmen hat der Meister Raum in einem Fitnesscenter angemietet. Beim ersten Besuch wurde ich noch nicht behelligt, doch beim zweiten Mal fing mich am Eingang eine hübsche junge Dame ab, um mir eine Mitgliedschaft in diesem Fitnessclub aufzunötigen. Einen ausländischen Kollegen hatte sie schon in der Mangel. Seine Freundin, die ihn begleitete, übersetzte.
Es ist mitunter nützlich, ohne chinesische Freundin auszugehen und statt dessen den Deppenbonus zu genießen; dann braucht man als Ausländer nichts zu verstehen. Natürlich will ich kein Fitnessclub-Mitglied werden, weder in Deutschland noch in China.
Die nächste Überraschung war mein alter Meister selbst. Er hat sich für das Training eine Phantasieuniform zugelegt, die seltsamerweise genauso aussieht wie die meines ersten chinesischen Kampfkunstlehrers – und der machte Taekwondo. Sogar die gleichen Schuhe trug er.
Vor zwei Jahren habe ich noch ganz unter traditionellen Bedingungen mit Wing Chun begonnen, meistens allein, alles ging ohne große Förmlichkeiten und freundlich vonstatten, auch wenn das Training gelegentlich hart war. Die jetzt am Anfang und Ende des Unterrichts praktizierten Grußformen, die wie Appelle auf einem Kasernenhof klingen, gab es nicht. Die Räume waren ohne Heizung, die Toilette hinter der Hausecke hatte eine abgesetzte Betondecke, die eine unvergeßliche Erinnerung schuf, das Licht war meistens defekt.
Nein, hier soll nichts romantisch verklärt werden. Früher war erstmal nichts besser, sondern nur anders. Und das, was uns heute so nostalgisch verklärt erscheint, war auch mal eine Moderne, die sich gegen noch Älteres durchgesetzt hatte. Und gegen Wasserspülung und Dusche spricht nichts! Andere Fortschritte in der Kommerzialisierung und Standardisierung hingegen erscheinen fragwürdig. Bisher gab es zum Beispiel keine Zuschauer. Jetzt bevölkern junge neureiche Chinesinnen die Fitnessclubs und schauen gelangweilt zu. Sie tun vieles und sehr schnell, um auf deutsche Proportionen zu kommen.
Von meinen Studenten weiß ich, wie die Lebensbedingungen in den traditionellen Hutongs waren; moderne (Hoch-)Häuser mit dicken Wänden, Dusche und mehreren Zimmern in der Wohnung sind natürlich ein gewaltiger Fortschritt, nicht zuletzt für die Intimität.
Besser muß es früher nicht gewesen sein; aber warum erscheint es uns oft so? Ist das schon das Alter, das – an den Rand der Moderne gespülte – Senioren immer häufiger sinn- und hilflos als Entschuldigung anführen? Ständig erleben wir den Blick stumpfer Touristen, die die Hutongs bewundern und bedauern, daß sie modernen Hochhäusern weichen müssen. Dieses uninformierte Sehen ist dem japanischer und chinesischer Touristen nicht unähnlich, die unsere Burgen und Schlösser bewundern, aber vom Leben derer, die sie gebaut haben, nur wenig wissen wollen.
Ich mag meines Meisters neuen Kettenladen jedenfalls nicht und bin deshalb zu Bagua Zhang, einer anderen Kampfkunst, gewechselt. Sie wird noch traditionell gelehrt. Auch der Trainingsort, ein denkmalgeschützter Hutong, ist mir vertrauter. Wir sind nur ganz wenige Schüler, was traumhaft ist. Dafür bezahle ich gern einen etwas höheren Preis.