Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 12. November 2007, Heft 23

Einheit in der Einfalt

von Wolfgang Sabath

Wer sich darauf einläßt, mit der Birthler-Behörde eine Podiumsdebatte zum Thema DDR – natürlich insbesondere zum Thema Stasi – zu veranstalten, muß auf Murren und Buhrufe aus dem Publikum gefaßt sein, wenn er den Kanones dieser Aktenverweser nicht hundertprozentig folgt. So erging es unlängst Egon Bahr (eh zum Kreis der »Verdächtigen« gehörend!), der sich auf einer Akademieveranstaltung in Berlin (Die Akademie und die Stasi) erfrecht hatte zu behaupten, die Öffnung der Stasiakten sei ein »nicht reparabler Fehler« gewesen. Hätte man sie verschlossen gehalten, wären wir mit unserer inneren Einheit weiter. Nun bleibe nichts übrig, als »aufarbeitend innere Versöhnung zu gewinnen«.
Denn wisset: Sie wollen ja gar nicht diskutieren, debattieren, ausloten, abwägen, nachdenken, Gründe finden, Motive bedenken. Nein, sie – ich meine die Gesamtgemeinschaft der Freunde, Förderer und Beifallspender der Aktenbehörde – wollen eigentlich nur eins: recht haben und recht behalten.
Wer sich diesem Kanon nicht unterwirft, hat schlechte Karten. Selbst (oder erst recht?), wenn er Egon Bahr heißt.
Und gelegentlich steht man bei derartigen Gelegenheiten wie der obigen vor der Frage, ob hier bornierte Ideologen am Werke sind, die ihre politischen Süppchen anrichten, um zu versuchen, diverse Entscheidungen der Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen, oder ob sich hier nur Dummheit artikuliert. Möglicherweise von jedem etwas. Wer die regelmäßigen historisch-politischen Auslassungen der Behördenchefin parat hat, die seit jeher durch ihre außerordentliche Schlichtheit beeindrukken, wird eher letzterem zuneigen; und wer vor allem die Aktivitäten jener Birthler-Klientel verfolgt, die sich der ungeschützten Berufsbezeichnungen »Schriftsteller« oder »Publizist« bedienen, wird sich für die Rubrik »bornierte Ideologen« entscheiden.
Natürlich sind derartige Einteilungen und Rubrizierungen oft ungenau, manchmal ungerecht und zuweilen gar falsch, und sie helfen eigentlich nicht weiter. Aber eben nur »eigentlich« …
Mir scheint, nicht allein die Creme der einst DDR-dissidentischen Bewegung, die sich heutzutage einer Staatsnähe befleißigt, von der Walter Ulbricht und Erich Honecker nicht einmal zu träumen gewagt hätten (zugegeben: Es kömmt womöglich doch auf den Staat an …), ist das wirkliche Problem. Diese Meinung vorgebende »Creme«, changierend zwischen den fleißigen Öffentlichkeitsarbeitern Erhart Neubert, Lutz Rathenow und Vera Lengsfeld und heftigst flankiert vom Forschungsverband DDR-Staat der Berliner Eliteuniversität FU unter der bewährten Führung des Genossen Manfred Wilke, hat »draußen im Lande« beflissene Adepten. Deren intellektuelles Niveau entspricht nach meinen Beobachtungen etwa dem der Marianne Birthler. Die glänzte vor längerer Zeit einmal mit der Behauptung, in ihrer DDR-Schulzeit nichts von Judenverfolgungen gehört zu haben.
Ja, so etwas geht durch. Und es geht auch das durch, worüber Reinhard Stöckel im vorigen Blättchen in seinem Artikel Leiden und leiden lassen berichtete: Auf einer Veranstaltung im Cottbuser Stasiknast sagte der einstige Stasigefangene Siegmar Faust: »Den Kommunisten ging es doch unter den Nazis besser als uns unter den Kommunisten.« Der darauf folgende spontane Beifall …
Es gibt Ungeheuerlichkeiten, die es erstaunlicherweise nicht in die Schlagzeilen oder auf die Kommentarseiten schaffen. Das hat natürlich Gründe. Doch erstaunlich ist auch (oder wieder auch nicht – je nachdem), wie ähnlich die neuen Rechthaber den alten Rechthabern sind. Sicher, auch die Unterschiede und vor allem die Konsequenzen des jeweiligen Agierens sind natürlich nicht unbeträchtlich. In Leipzig beispielsweise monierte ein ehemaliger Vernehmer der DDR-Staatssicherheit, daß sein Name in einer Ausstellung erwähnt wird und beanstandet – zu Recht, zu Recht! – die Gleichsetzung des DDR-Staates mit dem NS-Regime, um sich im gleichen Atemzug dermaßen ins Unrecht zu setzen, daß einem die Spucke wegbleibt: Die DDR, so der Mann, sei ein Rechtsstaat gewesen.
Was soll man dazu sagen? Forderungen nach einem Rechtsstaat in der DDR galten bestenfalls als Anfälligkeit für »kleinbürgerliches Denken« und schlimmstenfalls als besonders verschlagene Variante, die »Konterrevolution« zu formieren. Mir fällt zu solcher Chuzpe nichts mehr ein. Wie es der Zufall will, erklärte übrigens auch in Cottbus, wo Siegmar Faust spontanen Beifall einfuhr – auf der »anderen« (?) Seite – der Genosse Masula, in dieser Stadt stellvertretender Chef der LINKEN, die DDR sei ein Rechtsstaat gewesen. Beide Seiten brauchen einander.
Eigentlich könnte man sich angesichts solcher Äußerungen von Faust oder Masula und all ihrer Gefährten im Geiste gelassen an die Stirn tippen, zumal vermutet werden könnte, daß das alles Kämpfe von gestern sind. Doch so einfach sollten wir es uns doch nicht machen. Denn diese Leute reden nicht aus taktischen Gründen so einen Unsinn, sondern, ich vermute und befürchte, sie glauben das, was sie sagen.
Und an dieser Stelle wird es problematisch, weil ihnen die etablierten Politiker – und zwar aus sehr taktischen Erwägungen – nicht in die Parade fahren. Keiner von seinen politischen Freunden wird Siegmar Faust ob seiner Unverschämtheit öffentlich tadeln (es könnten ja Wähler verprellt werden), und auch keiner ihrer politischen Freunde wird sich den Leipziger Stasiangestellten oder den Cottbuser Funktionär der LINKEN öffentlich zur Brust nehmen. Diese Partei, und vor allem der PDS-Teil ihrer Führung, hat sich das Aussitzen angewöhnt. Und bis jetzt ist sie ganz gut damit gefahren. Und denkt vermutlich, damit weiter gut zu fahren.
Es gäbe noch vieles zu diesem Thema zu bedenken und zu wägen. Insbesondere diese unappetitliche Einheit in der Einfalt sollte uns weiterhin Mühen wert sein. Gut, der »Gedenk-Oktober« ist überstanden, die einen haben ihren Sedan-Tag gehabt, die anderen leckten ihre Wunden. Doch der nächste Oktober kommt bestimmt.
Und wenn wir nicht wollen, daß unsere (DDR-)Geschichte zu freundlichen Dönschens gerinnt oder in Blockdenken à la Faust/Masula erstarrt … Aber vielleicht sollten wir uns damit abfinden, daß gegen die Dummheit kein Kraut gewachsen ist.
Wie weit noch zur inneren Einheit? Gegen Schluß fragte Bahr, ob er Goethe rezitieren dürfe. Unter Beifall und Buh-Rufen hatten es die vier Verse aus den Zahmen Xenien nicht leicht, gehört zu werden: Verfluchtes Volk! kaum bist du frei ,/ So brichst du dich in dir selbst entzwei. / War nicht der Not, des Glücks genug? / Deutsch oder teutsch, du wirst nicht klug.