Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 29. Oktober 2007, Heft 22

Geschichten aus dem Klassenzimmer

von Paul

Allmorgendlich steige ich aus der S-Bahn, laufe an Anton (Saefkow) vorbei, dann noch kurz durch eine Straße und auf den Schulhof. Die Wände sind in erreichbarer Höhe mit Graffitis und den Namen der Schüler, die das Abitur bereits bestanden, bunt bemalt. Darüber ist alles grau in grau, eine Uhr tut seit Jahren ihren Dienst. Dieses Ensemble hat einmal einen Schüler zu der Feststellung bewegt: »Das sieht hier aus wie in einem Zuchthaus.«
Über den Aufgang am Hausmeisterzimmer steige ich in den ersten Stock, wo sich das Sekretariat befindet. Durch eine große Tür zum Aushang tretend, eröffnet sich mir ein wildes Bild aus Zetteln, die meist ignoriert werden, es sei denn, ein Lehrer ist krank und die Frage nach einer möglichen Vertretung steht im Raum.
An diesem Morgen erfahre ich vom Aushang, daß ich meine Klausur in der Aula zu schreiben habe. Wir sind gemahnt, mindestens eine Viertelstunde vor Beginn da zu sein, damit wir pünktlich anfangen können.
Fünf Minuten vor acht kommt der erste Lehrer. Er schließt auf, die Schüler strömen herein. Drei Kurse mit durchschnittlich 25 Schülern befinden sich im Raum. Zwei Kurse dürfen früher gehen, da sie nach 240 Minuten ihre Arbeiten abgeben müssen. Mein Kurs schreibt 300 Minuten. In der letzten Stunde wird es verhältnismäßig ruhig sein. Leise ist es. Wenn sich über siebzig Menschen in einem Raum befinden, dann wird es niemals ruhig sein.
Wieso werden so viele Schüler in einen Raum gepfercht? Die Antwort lautet: Lehrermangel. Mit Beginn dieses Schuljahres wurden die Berliner Lehreinrichtungen nur noch mit hundert Prozent Lehrern ausgestattet. 103 Prozent wären nötig, um wenigstens einen Teil des ausfallenden Unterrichts zu erteilen. In den höheren Klassen findet fast nie eine Vertretung statt; häusliches Arbeiten wird trainiert.
Ein ganz anderes Bild schien sich einige Tage später in einer der nächsten Klausuren abzuzeichnen. Zwei Kurse, bestehend aus wenigen Schülern, wurden in einem ruhigen Klassenraum versammelt. Da es sich um einen zentralen Klausurtermin handelte, waren in vier weiteren Klassenräumen ebenfalls Kurse versammelt. Die Aufgabenblätter für die Klausur wurden pünktlich verteilt. Doch dann hielt ein Lehrer eine kurze Ansprache: Er müsse sich entschuldigen, daß die Bilder auf den Aufgabenblättern nicht zu erkennen seien. Der Farbkopierer sei kaputt. Deshalb werde er noch ein originales Blatt und eine originale Folie herumgeben, auf denen die Bilder in voller Schönheit zu sehen seien.
Nach einer Viertelstunde kam die Folie: Farben schimmerten mir entgegen und erzeugten eine ganz neue Sichtweise. Nach einigen Minuten wanderte die Folie in einen der vier anderen Räume, in denen die gleiche Klausur zu schreiben war. Nach einiger Zeit kam auch das originale Blatt, das ebenfalls relativ schnell weiterwanderte. Das alles dauerte selbstverständlich zu lange. Deshalb wurde am Ende alles anders organisiert: Die Schüler des einen Kurses mußten in den nächstgelegenen Kurs gehen, um sich das originale Blatt anzusehen; die anderen Kurse mußten sich zur Arbeit mit der originalen Folie ebenfalls besuchen.
Irgendwann war auch diese Klausur vorüber.
Am nächsten Tag war wieder normaler Unterricht. Da in vielen Kursen nicht genug Bücher mit dem neuesten Forschungsstand vorhanden sind, müssen für die Schüler, die mit veralteten Büchern arbeiten, oftmals Kopien gemacht werden. Eigentlich werden diese Kopien dann ausgeteilt, bearbeitet und eingeheftet. An diesem Tag war es anders. Uns wurde gesagt, daß wir nichts anstreichen, sondern nur das Wichtigste herausschreiben sollten. Die Kopien müßten noch für den nächsten Kurs reichen. Jeder Lehrer habe für dieses Semester nur noch ein bestimmtes Kontingent an Kopien. Die Schule habe kein Geld. Außerdem müßten sich die Lehrer in den Pausen um den Kopierer schlagen. Einer von beiden sei ja kaputt.
Wenn man von alldem »Urlaub« nehmen möchte, geht man auf die Toilette. Vor einigen Jahren saniert, und trotzdem sieht es hier aus wie in der Kloake. Die weißen Wände sind nur streckenweise zu erkennen. Die Kloschüsseln verstopft, die Pissoirs ebenfalls. An manchen Tagen liegt nasses Klopapier herum. Wer sich die Hände waschen möchte, wird es kaum schaffen, denn Seife ist Mangelware, Papierhandtücher ebenso, außerdem sind viele Wasserhähne beschädigt. Eine Lehrkraft, die sich neulich auf eine solche Toilette verirrte, fragte mich, ob das hier so normal sei. Ich habe in diesem Fall die Wahrheit gesagt.
Am Ende der Woche ging ich zum Aushang, neben dem ein Kasten mit Aufgaben für nicht vertretene Kurse hängt. Anschließend setzte ich meinen Weg aus dem grauen Gebäude fort, vorbei an Anton und hinein in die S-Bahn.