Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 15. Oktober 2007, Heft 21

»Chancen nutzen«

von Ove Lieh

Wenn sich jemand so viel Mühe gibt, dann wollen wir es anerkennen, auch wenn es sich um den Bundespräsidenten handelt, von dem wir eigentlich mehr erwarten als nur, daß er sich Mühe gibt. Er seinerseits erwartet von uns übrigens auch nicht mehr als eben das: daß wir uns viel Mühe geben: Denn die Globalisierung, das ist einfach das Leben, das gestaltet sein will, durch nüchternes Tagwerk und schöpferische Phantasie, durch fortwährende Anstrengung und fröhliche Begeisterung. Das alles macht uns aus, und es kann die Welt zum Besseren verwandeln. Man muß sich schon viel geben, um bei diesen Sprüchen ruhig zu bleiben.
Wenn es dann wider Erwarten doch nicht klappt mit der Wende zum Besseren, dann muß da noch etwas gewesen sein, auf das Horst Köhler nicht hingewiesen hat. Vielleicht steckt hinter der Globalisierung eben mehr als daß … sich weltweit die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebensbereiche immer tiefer berühren und durchdringen. Dafür hat sich das Wort Globalisierung eingebürgert. Doch was genau die Ursachen und die Folgen der Globalisierung sind und wie sie zu bewerten ist, darüber gehen bei uns die Ansichten weit auseinander. Das ist etwas zu wenig, Herr Köhler, man muß zuerst um das Wesen der Globalisierung streiten, und dieser Streit ist ebenso entscheidend wie nicht entschieden. Eines hingegen ist unbestritten: Die Globalisierung ist weder Naturereignis noch allein Folge des technischen Fortschritts.
Streit allerdings dürfte es darüber geben, ob sie tatsächlich … seit Jahrhunderten angetrieben wird vom friedlichen Handel und Wandel. Hoffentlich haben die vielen Kriege die »friedliche« Globalisierung nicht allzusehr gestört. Die kürzeste Entfernung zwischen zwei Menschen ist ein Lächeln. Vielleicht haben Lokführer und Bahnchef einander nur zu wenig zugelächelt. Joseph Ackermann jedenfalls hat sogar vor Gericht gelächelt, sehr gewinnend übrigens. Leider lächeln zu wenige Leute zurück. Wenn es nicht gar so traurig wäre, was da vom Staatsoberhaupt kommt, könnte man auch hierzu lächeln. Nachsichtig.
Es ist wie in der DDR, immer nur Appelle! »Wir«, wer auch immer das sei, sollen müssen wollen, oder wollen müssen oder doch bitte … vermeintlichen Sachzwängen und geheimen Verführern Eigensinn entgegensetzen und nicht nur von allem den Preis kennen, sondern auch den Wert. Der Wert! Da war doch mal was? Da hat doch jemand mal gezeigt, daß unter der Oberfläche der Gesellschaft etwas wirkt und sich letztlich sogar gegen unseren Willen durchsetzt, was sich auf den ersten und oft sogar den zweiten oder dritten Blick nicht so leicht erkennen läßt.
Selbst viele Wissenschaftler, die sich damit befassen, tun sich schwer. Das kommt daher, daß die Wirtschaftswissenschaftler des Mainstreams die Zusammenhänge zwar herstellen, aber dann nicht erklären können. Deshalb erzählt jeder von ihnen etwas anderes, und man hat ständig das Gefühl, daß die Verbreitung der Wahrheit nicht ihr ureigenstes Motiv ist.
Auch die Berliner Reden der Bundespräsidenten dienen vor allem der Steigerung seiner Beliebtheit im Volke, weniger der Aufdeckung innerer Entwicklungszusammenhänge dieser Gesellschaft. Aber der Bundespräsident sagt auch ganz bemerkens- und beherzigenswerte Sachen: … lernen und wissen, denn wer nichts weiß, muß alles glauben.
Zum Beispiel auch die Schlußfolgerungen, die Horst Köhler aus seinen Befunden zieht: Erstens: Wir haben in der Vergangenheit eine wachsende Ungleichheit der Einkommen nur hingenommen, weil die Kurve für alle nach oben wies. Das muß so bleiben. Der Aufstieg der einen darf nicht der Abstieg der anderen sein! Was bitte, muß so bleiben? Daß wir die wachsende Ungleichheit der Einkommen hinnehmen? Daß ein Bundespräsident behaupten darf, daß die Kurve für alle nach oben wies, auch wenn klar ist, daß das nicht stimmt? Wenn die Unteren aufsteigen wollen, dann müssen die Oberen ein wenig absteigen. Im Film Feuerzangenbowle hätte Dr. Schnauz gesagt: »Köhler, Sie faseln!«
Zweitens: Die Arbeitnehmer sollten stärker als bisher an den Erträgen und am Kapital der Unternehmen beteiligt werden. Das verschafft ihnen eine zusätzliche Einkommensquelle. Auch wachsende Erträge brachten Arbeitnehmern bisher nicht selten den Verlust ihres Arbeitsplatzes oder wenigstens die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Und warum sollen sie nicht auch an den Entscheidungen der Unternehmen stärker beteiligt werden?
Drittens: Wer unverschuldet in Not gerät, soll sich auch künftig auf das soziale Netz verlassen können und eine wirksame Starthilfe erhalten, um schnell wieder aus eigener Kraft voranzukommen. Das ist ja wohl das mindeste, was man von einem sozialen Netz, das man zu einem großen Teil auch noch selber bezahlt, verlangen darf. Wieso gelten eigentlich Leistungen aus der Sozialversicherung immer als Geschenke und nicht wie bei anderen Versicherungen als durch Beitragszahlung erworbene Ansprüche?
Und viertens: Es müssen endlich alle wirklich gleiche Zugangschancen zu guter Bildung, wirtschaftlichem Erfolg und sozialem Aufstieg haben. Bildung ist die wichtigste Voraussetzung für gesellschaftliche Gerechtigkeit und soziale Mobilität. Also, Bildung kann wirklich nicht schaden.
Lesen Sie doch mal Robert Kurz: Das Weltkapital. Verlag Klaus Bittermann, 2005. Oder schmökern Sie in der Zeitschrift Exit aus dem Horlemannverlag. Internet: www.exit-online.org. Sie müssen ja nicht alles glauben, was da steht, aber wenn selbst Herr Köhler meint, Wissen sei wichtig …!

Zitate aus der »2. Berliner Rede« von Bundespräsident Horst Köhler vom 1. Oktober 2007