Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 3. September 2007, Heft 18

Zuflucht Saloniki

von Hermann-Peter Eberlein

Der Mythos von der Zuflucht der Sepharden im Osmanischen Reich hat einen Namen: Saloniki.« So beginnt die Einleitung zur deutschen Auswahlausgabe von Joseph Nehamas Histoire des Israélites de Salonique, die Lilli Hirschhorn vor einiger Zeit besorgt und mit der sie ein wichtiges, beinahe vergessenes Kapitel europäischer Geschichte wieder in den Blick gerückt hat: die kulturelle Vielfalt und religiöse Toleranz des Osmanischen Reiches.
Denn Saloniki war, als es noch Selanik hieß, eine zugleich türkische, griechische und jüdische Stadt. Das änderte sich erst mit dem Vertrag von Lausanne 1923, in dessen Folge die ethnischen Minderheiten zwischen der Türkei und Griechenland brutal ausgetauscht wurden. Das autochthone Griechentum West-Kleinasiens wurde vernichtet, die Entwurzelten überwiegend in Mazedonien, hunderttausend von ihnen allein in Saloniki, angesiedelt, wo sie bald den Nährboden für ultranationalistische Gruppierungen bildeten. Es ist ein schlechter Witz der Geschichte, daß Atatürk, der Begründer des türkischen Nationalstaates und Zerstörer jenes alten multiethnischen und multireligiösen Miteinanders auf dem Balkan und in Kleinasien, ausgerechnet im weltoffenen Selanik geboren wurde und dort seine Jugend verbrachte.
Mit etwa fünfzigtausend Juden war Saloniki zudem das Zentrum der Sephardim in der Levante. Ihre Geschichte beginnt mit der Vertreibung der Juden aus Spanien durch die Katholischen Könige im Jahre 1492 und endet mit dem Holocaust, der in Griechenland durch Alois Brunner organisiert wurde und dem ab 1941 fast alle Juden Salonikis zum Opfer fielen. Wie ein Wetterleuchten vor dem Untergang wirkt der griechische Antisemitismus der dreißiger Jahre, der bereits eine erhebliche Auswanderungswelle, vor allem nach Palästina, hervorgerufen hatte.
In solchen Zeiten des Untergangs gilt es, das Vergangene festzuhalten, mindestens seine Geschichte der Nachwelt zu hinterlassen. Das hat für das jüdische Saloniki Joseph Nehama geleistet, selbst eine Gestalt, wie sie nur das alte Vorkriegseuropa prägen konnte und wie sie heute kaum mehr vorstellbar ist.
Der 1881 in Saloniki geborene Nehama besuchte die französisch-jüdische Schule seiner Heimatstadt, eine Lehranstalt, die den Geist der westeuropäischen Aufklärung zu vermitteln suchte, danach die Ecole normale israélite orientale in Auteuil. Nach dem Studium der Philosophie, Pädagogik und Literatur an der Sorbonne wurde er Lehrer an seiner alten Schule in Saloniki, später Direktor sämtlicher frankophonen jüdischen Lehranstalten der Stadt und Inspektor der entsprechenden Einrichtungen im gesamten Vorderen Orient. Als die französischsprachigen Schulen geschlossen wurden, wechselte Nehama ins Direktorium einer Bank.
Ein hochverdienter Mann der Schul- und Verwaltungspraxis also, der uns jedoch vom Umschlagbild als Gelehrter anschaut und dessen interessierte Augen hinter dicker Brille hervor den Betrachter kritisch zu mustern scheinen. Ein liberaler Bildungsbürger, der seiner Herkunft und seiner Polis treu blieb und sich der Verantwortung im gesellschaftlichen und politischen Leben stellte: ein Typus, der einmal das Ideal auch des deutschen Intellektuellen war, und der uns heute, nachdem ihm Nazis, ein werteverschlingender Kapitalismus und die SED den Garaus gemacht haben, wie ein Wesen von einem anderen Stern vorkommt. Aufklärer, Freimaurer, dabei bewußter Jude ohne innere Beziehung zur jüdischen Religion, hat Nehama in der Zwischenkriegszeit die Partei des Ausgleichs zwischen Juden und Nichtjuden vertreten. Nach dem deutschen Einmarsch in Saloniki 1941 floh er mit Frau und Tochter ins italienisch besetzte Athen. Mit anderen Juden spanischer Herkunft wurde die Familie im Frühjahr 1944 nach Bergen-Belsen deportiert, wo sie dank ihrer ausländischen Nationalität in einer »verhältnismäßig privilegierten Situation« war.
Die Familie überlebte und kehrte nach Saloniki zurück, wo sich Nehama am Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde beteiligte, vor allem aber als Philologe und Historiker versuchte, wenigstens die Sprache und die Geschichte der Ermordeten vor dem Vergessen zu retten: ersteres durch sein grundlegendes Wörterbuch des Judenspanischen, letzteres durch eine mehrbändige Geschichte der jüdischen Gemeinde während der Besatzung.
Das wichtigste Werk des erst 1971 neunzigjährig verstorbenen Gelehrten aber ist seine über mehr als vierzig Jahre (1935-1978) hinweg publizierte siebenbändige Histoire des Israélies de Salonique. Ihr Schwerpunkt liegt in den Anfängen der sephardischen Gemeinde, dem 16. Jahrhundert. So leuchtet es ein, daß die Übersetzerin und Herausgeberin für ihre Ausgabe Texte über die Zeit zwischen der Ankunft der ersten spanischen Juden 1492 und 1556, dem Handelsembargo gegen Ancona und zugleich erstem Höhepunkt der wirtschaftlichen Macht der Juden Salonikis, ausgewählt hat. Das Gesicht der Gemeinschaft in ökonomischer wie sozialer Hinsicht wird durch diese Konzentration besonders plastisch. Zudem hat Herschhorn dem Band einen einleitenden Essay vorangestellt, der nicht nur die spärlichen Angaben zur Biographie des Verfassers sammelt, sondern auch das Werk aus dem Zeitkontext erhellt. Das alles macht Lust auf mehr, und so könnte die schmale Auswahl zugleich Ansporn sein, der deutschsprachigen Leserschaft dereinst das komplette Werk Nehamas zugänglich zu machen.
In ihrer Einleitung faßt die Herausgeberin als Leitmotive der Histoire zusammen: »den sentimentalen Blick auf eine vergehende Welt, den Stolz auf eine große Vergangenheit und den Glauben an die Vernunft als Grundlage sozialen Handelns«. Letzterer könnte die Moral aus der Geschichte sein, die zugleich ein Lehrstück über den Verlust kosmopolitischer Urbanität im 20. Jahrhundert darstellt – ihre Moral und die Voraussetzung dafür, daß eine solche zivile und zivilisierte Urbanität im 21. Jahrhundert unter anderen Vorzeichen auch im Orient wieder möglich werden kann.

Zuflucht Saloniki: Die Sepharden im osmanischen Exil. Eine Auswahl (1492-1556) aus Joseph Nehamas »Histoire des Israélites de Salonique«, herausgegeben von Lilli Herschhorn. Verlag Dr. Dieter Winkler Bochum 2005, 182 Seiten, 22,50 Euro