Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 17. September 2007, Heft 19

Warschauer Zitadelle

von Krzysztof Pilawski, Warschau

An der Ziegelmauer der Warschauer Zitadelle erinnern zwei Gedenktafeln an die erhenkten Führer des Januar-Aufstands und an die erhenkten Aktivisten der Partei Proletariat. Die einen wie die anderen warteten in den Todeszellen des 10. Pavillons auf ihr Ende.
Seit dem 18. Jahrhundert hinterließen in der Geschichte Polens zwei Richtungen ihre Spuren – die eine kämpfte um die nationale Befreiung, die andere um gesellschaftliche Veränderungen. Heute zählt nur die erste. Die Traditionen der Arbeiterwelt – die Revolution von 1905 oder die Massenproteste der Arbeiter in der Volksrepublik 1956, 1970 und 1980 ff. – werden durch die regierenden Eliten solidarisch von der Straße des Sozialismus in die Straße der Unabhängigkeit geführt. Die Aktivisten der früheren Solidarnosc erhalten ihre Auszeichnungen nicht etwa dafür, daß sie für Gerechtigkeit, Gleichheit, für die Subjektwerdung der Menschen der Arbeit, für Arbeiterdemokratie, für die reale Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der Macht stritten, sondern – wie die Kämpfer des Warschauer Aufstands – für Freiheit und Unabhängigkeit der Heimat. Solidarnosc entsprang nach heute herrschender Lesart nicht den Arbeiterkämpfen, sondern der Tradition der Nationalaufstände.
Auf die das Museum des Warschauer Aufstands umgebende Mauer hat ein Künstler aus Gdańsk Aufständische und Werftarbeiter gezeichnet. Das Bild krönt eine Art Kreuzung – eine jeweils halb aus einem Aufständischen und aus einem Werftarbeiter geschaffene Figur. Der Künstler gibt die offizielle Sicht auf die neueste Geschichte Polens getreu wieder.
Ludwik Waryński (1856-1889), ein Revolutionär und Mitbegründer der ersten Arbeiterpartei auf polnischem Boden mit dem Namen Proletariat, ist immer noch Namenspatron eines großen, in der Volksrepublik einst bekannten Warschauer Betriebes, der sich jetzt hochtrabend Holding nennt und sein überkommenes Eigentum verhökert. Einem ausländischen Investor hat die Firmenleitung nun ein lukratives Grundstück angeboten, auf dem ein Denkmal des Namensgebers steht, und ließ in die Öffentlichkeit lancieren, daß man sich des »Ballastes aus kommunistischer Zeit« sehr gern entledigen würde. Die Hauptstadtverwaltung unternimmt in dieser Sache nichts, was nicht verwundert, veranlaßte sie doch ihrerseits, daß ein nur wenige hundert Meter entfernt stehender Gedenkstein für den 1932 durch die Polizei erschossenen Kommunisten Henryk Gradowski entfernt wurde – auf einem Platz, der nach Artur Zawisza benannt ist, der hier 1833 durch die zaristische Polizei getötet worden war. Warynski und Gradowski gelten halt nicht als »Patrioten«. Sowohl Waryński als auch dessen Partei sowie spätere Revolutionäre stören den Wertekanon, den einzuführen die heutige Machtelite bestrebt ist.
Dieser Kanon bildet im Museum des Warschauer Aufstands schon die Richtschnur. Das Museum erfreut sich deshalb auch bester Reklame und ausreichender Finanzen. All das hingegen fehlt dem Museum des 10. Pavillons der Warschauer Zitadelle, wo trotz Liftings – mit dem die Kommunisten der Vorkriegszeit entsorgt wurden – noch immer die gültige »Linie« nicht vollständig durchgesetzt worden ist. Obwohl es dem Museum der Unabhängigkeit angeschlossen wurde, werden hier immer noch Führungen zum Thema Der Kampf der Polen um Sozialismus am Beispiel der Gefangenen im 10. Pavillon angeboten.
Denn die vier Mitglieder des Proletariats, an die auf Tafeln erinnert wird, waren die ersten, die nach dem Januaraufstand an dieser Stelle durch die zaristischen Machthaber hingerichtet worden waren. Auf der nach 1989 gestifteten Gedenktafel Zur Erinnerung an die Kämpfer für die Freiheit finden sich deshalb neben Józef Piłsudski und Roman Dmowski auch Ludwik Waryński und die mit Tadeusz Kościuszko verschwägerte Maria Bohuszewiczówna, die nach der Einkerkerung der Proletariat-Führer die Partei leitete, bevor sie selbst in die Zitadelle geworfen wurde und auf dem Weg nach Sibirien starb. In den Zellen der Zitadelle saßen gleichermaßen Unabhängigkeitskämpfer wie diejenigen, die man die Verkünder des neuen Evangeliums nannte – die Sozialisten. Und deswegen ist die Zitadelle kein angemessener Ort für Patriotismusunterricht, wie er nach den Vorstellungen der Kaczyński-Partei Recht und Gerechtigkeit verabreicht werden sollte.

Aus dem Polnischen: Holger Politt