Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 3. September 2007, Heft 18

Indio-Realitäten

von Klaus Hart, São Paulo

Mehr als die Hälfte der rund fünfhunderttausend brasilianischen Indianer ist bereits in die Städte gezogen – doch auch die übrigen übernehmen vieles vom Lebensstil der weißen und schwarzen Brasilianer. Im größten Indianerreservat nahe der westbrasilianischen Stadt Dourados läßt sich das gut beobachten. Das Reservat macht immer wieder Schlagzeilen, weil dort Indiokinder an Unterernährung sterben. Doch sie Situation ist widersprüchlich.
Grüne flache Landschaft mit einzelnen Baumgruppen, soweit das Auge reicht. Dazwischen immer wieder freistehende schlichte Backsteinhäuschen der Indiofamilien vom Stamme der Guarani, der Kaiowà und der Terena. Vor nicht wenigen Häuschen sind Autos und Motorräder geparkt. Die Terena sind auffällig wohlgenährt, viele sogar beleibt, und verfügen über einen höheren Lebensstandard sowie ein deutlich höheres Bildungsniveau als die schlanken, gar mageren Guarani und Kaiowà, mit denen früher die Terena verfeindet waren. Heute begegnet man sich nur noch mit Mißtrauen, will voneinander nichts wissen.
Inmitten des Reservats ein traditioneller Bau – das große Gebetshaus der Kaiowà, errichtet aus Palmstroh und Baumstämmen. Aldemiro, der Gesundbeter, trägt auch drinnen eine Schirmmütze mit englischer Aufschrift, ein buntes T-Shirt, Shorts, Plastiksandalen. Aldemiro räumt ein, daß seine Gebete bei manchen Krankheiten wirkungslos seien. Mitten im Gebetshaus starben daher schon unterernährte Kinder. Nicht zufällig betet Aldemiro für Frieden im Reservat – denn die Gewaltrate unter den Indios ist hoch. Erst kürzlich erschossen zwei Indianer einen Häuptling, erstach ein Jugendlicher eine Frau, die er für eine Hexe hielt. Es gebe Lynchjustiz. Trotz vieler barbarischer Morde dominiere Straffreiheit.
»Manche meinen, daß es unter den Indianern sehr sozial, sehr gemeinschaftlich zugehe, daß es sich um ›Gutmenschen‹, um edle Wilde handele«, sagt der Arzt Zelik Trajber vom staatlichen Indianer-Gesundheitsdienst FUNASA: »Doch das ist eine falsche, romantisierende Sicht, so war es noch nie.« Trajber stammt aus Polen, die meisten seiner Familienangehörigen wurden wegen ihrer jüdischen Herkunft von den Nazis umgebracht. Seit sechs Jahren ist er für die Gesundheitsbetreuung der rund sechzigtausend Indios des Teilstaates Mato Grosso zuständig, kennt die Situation im Reservat wie kaum ein zweiter.
Immer wieder fallen einem große Sojafelder auf, während Pflanzungen für Maniok und anderes Gemüse eher selten sind. Laut Gesetz müßte im Reservat jede Indiofamilie die gleiche Fläche besitzen – doch einige haben sehr viel Land, andere so gut wie gar nichts.
»Hier gilt das Recht des Stärkeren«, sagt Zelik Trajber. »Es sind Indioführer, die ihre vielen Ländereien ausgerechnet an Großgrundbesitzer für den Sojaanbau verpachten. Auf diesen Flächen müßte man zumindest Subsistenzlandwirtschaft betreiben, Lebensmittel produzieren. Schließlich gibt es hier noch Unterernährung, verteilen wir Nahrungspakete an bedürftige Familien. Weil ich gegen die Verpachtung und gegen den Sojaanbau bin, habe ich bereits viele Morddrohungen erhalten.«
Ambrosio Marangatu ist Häuptling des Reservatsdorfes Bororò. Was er zur Verpachtung, zu den vielen Sojaplantagen sowie zur reduzierten Subsistenzlandwirtschaft sagt, wirkt mehr als widersprüchlich. »Früher haben zehn, zwölf Indianer verpachtet, doch heute nicht mehr. Um große Flächen bearbeiten zu können, brauchen wir Landmaschinen – doch die Indianerbehörde FUNAI will uns dabei nicht helfen. In drei Jahren wird es hier zudem keine Flächen für Anpflanzungen mehr geben, weil die Indiobevölkerung stark angewachsen sein wird. In meinem Dorf Bororò leiden viele Kinder Not – das ist meine Hauptsorge. Der Staat muß uns die Nahrungsmittel stellen.«
Brasiliens Stammesorganisationen beklagen gewöhnlich, daß die Indios über immer weniger Lebensraum verfügten und es kaum noch Jagd- und Fischgründe gebe. Doch Häuptling Marangatu sieht dieses Problem nicht. »Es gibt hier viele Mütter, viele Väter ohne Arbeit – ich selbst bin arbeitslos. Wir alle suchen Beschäftigung, aber es gibt eben keine. Und deshalb leiden wir, sterben in unserem Reservat Kinder an Unterernährung. Erst fehlte der Trinkwasseranschluß für unsere Häuser, jetzt haben wir ihn. Dann fehlte uns Elektrizität – die haben wir jetzt auch. Doch Nahrung für die Kinder fehlt immer noch.«
Der Häuptling sagt indessen nicht, daß immerhin siebzehntausend der rund sechzigtausend Indios im Teilstaate bereits in Zucker- und Ethanolfabriken arbeiten, viele Indianer des Reservats eine Rente oder staatliche Hilfen des Anti-Hunger-Programms der Regierung beziehen.
Luciano Arevolo zählt ebenfalls zu den Führern des Reservatsdorfes Bororò. Er kritisiert, daß Indianer die Nahrungsmittelpakete gegen Schnaps eintauschten. Häuptling Marangatu bestreitet dies. Auch sei es nicht wahr, daß manche Mütter die eigenen Kinder stark vernachlässigen, sogar sterben lassen, wie dies andere Häuptlinge beklagen.
Manfred Göbel von der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe koordiniert in Brasilien die Arbeit von fünfzehn internationalen Leprahilfswerken und arbeitet im Reservat von Dourados eng mit Zelik Trajber zusammen. Göbel verweist auf bestimmte kulturelle Faktoren, darunter den starken Machismus. »Das Problem liegt auch in der indianischen Kultur: Wenn Nahrung da ist, essen zuerst die Männer. Die Frauen dürfen das erst danach. Denn wenn die Frau vor Hunger stirbt, kann er sich eine andere nehmen. So – etwas einfach erklärt – ist die Mentalität. Erst zuletzt essen die Kinder. Denn wenn ein Kind stirbt, kann man ja ein anderes zeugen. Es ist deshalb nicht damit getan, daß man den Indios Nahrungsmittel liefert, und es dann so abläuft: Zuerst der Mann … Es müssen neue Strategien entwickelt werden, damit auch die Kinder genügend zu essen bekommen.«
Im Reservat von Dourados hat Zelik Trajber mit solchen Strategien bereits Erfolg. Er läßt täglich in jedem Indiodorf für die Kinder nahrhafte Suppen kochen. Deutlich unterernährte Kleinkinder werden in einem FUNASA-Heim wieder aufgepäppelt. Doch manche Eltern verweigern die Einweisung. Weil viele Indianer glauben, daß Krankheiten von Hexerei und bösem Zauber herrühren, lehnen sie jede medizinische Hilfe ab.
Derzeit werden im Heim vierzig Kinder betreut – mehrere haben Behinderungen oder kamen mit einer Hasenscharte zur Welt, sie werden demnächst operiert. Die Leiterin Amelia Navarro hat eines der Babies auf dem Arm und schildert den bei Indiostämmen üblichen Infantizid – Mütter töten ihre Kinder beispielsweise wegen Behinderungen, Geburtsfehlern, gar wegen des nicht erwünschten weiblichen Geschlechts. Zelik Trajber und sein Team haben in sechs Jahren erreicht, daß die Kindersterblichkeitsrate des Reservats heute unter dem Gesamtdurchschnitt Brasiliens liegt. Für die riskante Arbeit in einem Gebiet von der Größe Deutschlands erhält der Sechzigjährige umgerechnet 2200 Euro im Monat.
Indios sterben heute nicht mehr hauptsächlich an den Folgen von Unterernährung, sondern vor allem an Herz- und Kreislaufkrankheiten, so wie der Rest der Brasilianer auch. Beim Stamm der besonders akkulturierten Terena hat Trajber sowohl bei Erwachsenen als auch schon bei Kleinkindern sogar das Problem der Fettleibigkeit und zunehmender Diabetes. »Die Gesundheitsbetreuung ist im Reservat heute besser als in den Slums von Rio oder São Paulo.«