Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 20. August 2007, Heft 17

Ukraine und Russland

von Gerd Kaiser

Für das Verhältnis zwischen Ukrainern und Russen benutzt der vom deutschen Feuilleton vorwiegend gehätschelte ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch den deutschen Begriff »Haßliebe«. In seiner ukrainischen Muttersprache gibt es für diesen Gefühlszustand wohl keinen treffenden Ausdruck. Das Wort Ukraine bedeutete ursprünglich »am Rand«, »an der Grenze«, Grenzland zwischen Rußland im Osten und dem Westen, inzwischen EU-Gebiet. So am Rand liegend oder an den Rand gerückt, manchmal auch gedrückt, sehen sich nicht wenige Ukrainer. Die Landeskinder gehen seit Jahrhunderten als »Kleinrussen«, im Unterschied zu den »Großrussen«, den eigentlichen Russen, durch die Geschichte.
Mehr Haß denn Liebe äußere sich derzeit beim »homo ucrainicus« laut Andruchowytsch gegenüber Rußland. Dabei stellen Russen einen großen Teil der Bevölkerung der Ukraine. Sie konzentrieren sich im mehr oder weniger hochindustrialisierten Osten der Ukraine (auch die Ukraine hat ihren Osten).
Andruchowytsch, ein junger Mann, fühlt sich als Streiter für die nationale Identität der Ukrainer, ihrer Sprache, ihrer Kultur. Stammt er doch aus der Westukraine (die Ukraine hat auch ihren Westen), aus Iwano-Frankijsk, dem einstmaligen Stanislaw. Er versteht sich als Mitbegründer und Träger einer kulturellen nationalen Erneuerungsbewegung, die in den achtziger Jahren begann. Diese setzte sich sowohl gegen tatsächliche als auch vermeintliche Vormachtstellungen Rußlands sowie gegen einen gewissen Typ von Russen in der Ukraine durch. Andruchowytsch sieht die Ukrainer geteilt in den »homo sovieticus«, das sind die anderen, »die Russen«, und in den bereits erwähnten »homo ukrainicus«, das sind die Richtigen, »die eigentlichen Ukrainer«.
Tonangebend in den Auseinandersetzungen zwischen beiden Richtungen sind derzeit die Eliten. Diese Schichten mit widerstreitenden politischen und wirtschaftlichen, zum Teil auch kulturellen Vorstellungen bestehen aus den »neuen Russen« – die so neu nicht sind – und den »neuen Ukrainern« – die ebenfalls so neu nicht sind. Ein Teil der Letzteren sehen ihre Lichtgestalt in der rundbezopften Julia Timoschenko.
Die Vorliebe einer keineswegs kleinen Schicht vormaliger Parteikommunisten für hohltönenden Nationalismus ist sowohl in der Ukraine als auch in Rußland erhalten geblieben. Sie drapieren ihre stupiden politischen und wirtschaftlichen Eigeninteressen nicht nur durch Zopftracht und Kampfbanner. Hinter den orangenen und den gelb-blauen oder roten Kampfbannern der Vaterlandsliebe steht vor allem die Liebe zum großen Geld und zur Macht. Diese Art der »Vaterlandsliebe« schoß über Nacht aus dem Boden, und wenn es not tat, schoß man – wie auch in der Vergangenheit – aufeinander oder schlug aufeinander ein, in Moskau ebenso wie in Kiew.
Andrej Kurkow, einer der bekannten ukrainischen Schriftsteller, benennt einen besonderen Aspekt der Haßliebe in der Ukraine. Er meint, daß deren Politiker oftmals Trost in der Flasche suchen. Die Rolle, die der Alkohol in der ukrainischen Gesellschaft vor dem Niedergang des Sowjetstaats bei den Eliten spielte, habe sich nicht verändert. Geändert hätten sich lediglich die Marken und deren Preis: Cognac oder Whisky seien an die Stelle des altbewährten »Samogonka«, des Selbstgebrannten, oder des Wodka, des staatlich ausgeschenkten »Wässerchens«, gerückt.
Andrej Kurkow schreibt seine Bücher in Russisch, so wie auch vor zwei Jahrhunderten der Klassiker der ukrainischen Literatur, Taras Schewtschenko, seine Tagebücher in russischer Sprache verfaßte oder der Ahnherr der modernen ukrainischen Literatur, Ivan Franko, sich sowohl der ukrainischen als auch der russischen als auch der polnischen Sprache bediente.
Im Osten der Ukraine dominieren die »Großrussen«. Man spricht Russisch und hängt – in emotionaler wie in wirtschaftlicher Hinsicht – an Rußland. Im Westen der Ukraine leben die »Kleinrussen« – je weiter westwärts, desto ukrainischer geben sie sich. Jahrelang attackierten »neue Ukrainer« Kurkow und verlangten, er solle ukrainisch schreiben. Erst nach dem literarischen – und pekuniären – Erfolg durch Übersetzungen in westeuropäische Sprachen konnte er seinen Kopf durchsetzen und seine Geschichten voller Melancholie, Ironie und schwarzen Humors so schreiben, wie er es wollte. Da die Helden einer seiner Geschichten dem Hennessy zugetan waren, lud ihn das französische Unternehmen ein. Fünf Tage lang konnte er sich in Cognac am Hennessy gütlich tun. Generell gehört zu seinen Erfahrungen, daß Geistreiches und hochprozentiger Geist für die Mehrheit der schreibenden Zunft zusammengehören. Nachweislich nüchtern schreiben nur die mehr als einhundert ukrainischen Schriftsteller, die, ethnisch Kalmyken, ihre Prosa oder Lyrik in tatarischer Sprache verfassen.
Kurkows ukrainisch schreibender Schriftstellerkollege Jurij Andruchowytsch sieht als bekennender »homo ucrainicus« im Hang zum Alkohol allerdings weniger eine ukrainische als eine vorwiegend russische Lebensäußerung. In seiner Moscoviada heißt es, Betrunkene seien in Moskau so allgegenwärtig wie in Irland die Rotschöpfe.

Juri Andruchowytsch: Moscoviada, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2006, 223 Seiten, 22,80 Euro; Andrej Kurkow: Die letzte Liebe des Präsidenten, Diogenes Verlag Zürich 2007, 694 Seiten, 11,90 Euro