Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 6. August 2007, Heft 16

Plisch und Plum ohne Vers fünf

von Michael Reuter

Matthias Krauß, Journalist aus und in der märkischen Provinz, ist seit einigen Jahren auch Buchautor und hat sich zwei bemerkenswerte Eigenschaften erhalten: erstens eine fast naive Neugierde und zweitens die Überzeugung, daß die eigene Recherche durch kein noch so fingerfertiges Nachbeten und Ausschmücken von Agenturmeldungen oder Meinungshauptstrom-Feuilletons zu ersetzen ist. Stößt er auf einen Stoff, der ihn aufregt, läßt er sich anregen – aber nicht zu geballter Polemik, sondern zu nachdenklichem Blick zuerst in die eigene Erfahrungswelt und dann auf jene Ränder und Ecken des weiten Feldes Gesellschaftsentwicklung, die der Zeitgeist in seinem Bestreben, die DDR in all ihren Verästelungen auf immer und ewig zu verdammen, gerade mal wieder zu beackern »vergessen« hat. So hat er im Jahre 2004 in selbstbewußt-witziger Replik auf linientreue Bücher wie Jana Hensels Zonenkinder oder Claudia Ruschs Meine freie deutsche Jugend mit dem Buch Der Wunderstaat seine »richtigen Geschichten aus einem falschen Leben« mit Kapiteln der Art Wie ich gezwungen war, den Hitler-Stalin-Pakt abzuschreiben oder Wie ich um ein Haar gegen die Volksrepublik China in den Krieg gezogen wäre unter die Leute gebracht, und ein Jahr darauf präsentierte er unter dem Titel Das Mädchen für alles ein herzerfrischendes und beziehungsreiches Angela-Merkel-Porträt, mit dem er das Herkommen der Kanzlerin aus der DDR nicht nur im Text würdigt und auf seine heutige Bedeutung hin ausleuchtet, sondern auch durch Fotos »von damals« illustriert, die er einem abgeluchst hat, der dabei gewesen ist.
Nun hat Krauß sein drittes Buch vorgelegt, und es ist sein bisher gewichtigstes und politisch mutigstes. Völkermord statt Holocaust. Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR. Ein Nachlesebuch ist sein Titel, und Nachlesebuch ist wirklich so gemeint, wie es geschrieben ist. Jedenfalls für die Ostdeutschen. Sie mögen nachlesen, meint Krauß, was sie alles schon einmal gelesen haben – jedenfalls dann, wenn der Lehrplan im Deutschunterricht erfüllt worden ist und sie ihn wenigstens leidlich ernstgenommen haben –, und sich daran erinnern, daß sie sehr viel mehr über die Verfolgung und Vernichtung der Juden in der Zeit des Faschismus erfahren haben, als ihnen der Zeitgeist heute zubilligt.
Und die Westdeutschen? Sie mögen dies alles überhaupt erst einmal lesen – um dann vielleicht ebenso verblüfft zu sein wie Brandenburgs aus dem Westen gekommener Generalstaatsanwalt Erardo C. Rautenberg, der sich bei der Premiere des Buches in Potsdam in einer Laudatio nicht scheute einzugestehen, daß ihm »wieder ein Klischee abhanden gekommen« sei. Ost- und Westdeutsche gemeinsam schließlich mögen bei der Beurteilung dessen, welche Rolle das Schicksal der Juden im jeweiligen Weltbild gespielt hat, nicht alles auf die Verwendung des Begriffes »Holocaust« reduzieren – denn von »Holocaust« wurde in der BRD auch erst seit 1979 gesprochen.
Schon der Einstieg ins Buch ist ein typischer Krauß. Eine neue Wilhelm-Busch-Ausgabe habe er sich bestellt dieser Tage bei einem Versandhaus, schreibt er, und bei der Plisch-und-Plum-Geschichte sei er plötzlich ins Stocken geraten. Kurz die Hose, lang der Rock, / Krumm die Nase und der Stock, / Augen schwarz und Seele grau, / Hut nach hinten, Miene schlau – / So ist Schmulchen Schievelbeiner. / (Schöner ist doch unsereiner.) Nein, habe er gedacht, diesen Vers kennst du nicht, hast du noch nie gelesen, und im Bestreben, dies zu überprüfen, sei er bei einem Bekannten auf das große Wilhelm-Busch-Album vom Kinderbuchverlag Berlin 1962 gestoßen, und in der Tat: Plisch und Plum hatte dort statt sieben nur sechs Kapitel, das fünfte, aus dem hier zitiert ist, fehlt. Die Geschichte mit dem »als schmierig dargestellten Juden, der von Hunden gehetzt wird und vor denen noch in die Knie geht« (Krauß), gab es da nicht, sie war herauszensiert. Statt für die literarische Vollständigkeit hatte sich der DDR-Verlag für das Prinzip »kein Antisemitismus« entschieden.
Von Plisch und Plum bahnt sich Krauß den Weg nun in das, was unter den Begriff der »Pflichtliteratur« fiel und heute gern mit einem abfälligen Lächeln abgetan wird. Er nimmt aus den Schulbüchern – in der von ihm gewählten Reihenfolge – Texte und Gedichte von Gotthold Ephraim Lessing und Lion Feuchtwanger, Heinrich Heine und Nikolai Ostrowski, Isaak Babel und Anna Seghers, Bruno Apitz und Otto Gotsche, Friedrich Wolf und Johannes R. Becher, Arnold Zweig und Willi Bredel, Rolf Hochhuth und Egon Erwin Kisch, Jurek Becker und Sarah Kirsch, Johannes Bobrowski und Louis Fürnberg, F. C. Weiskopf und Stephan Hermlin zur Hand (dies alles – noch einmal – war Pflichtliteratur!), untersucht sie auf ihre Aussagen zum Leben und zur Verfolgung der Juden und zum Völkermord an ihnen und setzt dies alles in Bezug zu seinen eigenen Schulerinnerungen und zu dem eigenartigen Erlebnis, daß Freunde und Bekannte seiner Generation, denen er von seinem Buchvorhaben erzählt hatte, »ausnahmslos« beteuert hätten, daß zu diesem Thema in ihrem Unterricht »absolut nichts« stattgefunden habe.
Sein Fazit: »Der Völkermord an den Juden (›Holocaust‹) wurde im DDR-Literaturunterricht und in den dort behandelten Werken nicht verschwiegen. Das Thema wurde keineswegs verbannt, es kam in allen höheren Klassen zur Sprache.« Aber auch: »Judentum als solches wurde in der DDR-Schule ebensowenig auf die Tagesordnung gesetzt wie Christentum als solches.« Und: »Obwohl (…) die für den Unterrichtskanon und für das Lesebuch ausgewählten Werke etwas anderes zugelassen hätten, rücken Lehrpläne und Unterrichtsdirektiven bei lediglich zwei Gelegenheiten das jüdische Thema in den Mittelpunkt – im Falle ›Nathans‹ (des Weisen) und (Professor) ›Mamlocks‹ (Einfügungen: M. R.).«
Der Schulbuchuntersuchung hat Krauß einen Anhang beigegeben, in dem er einen »Streifzug durch die DDR-Buchproduktion zum Thema Juden und Israel« unternimmt, sich dem »DDR-offiziellen, geschichtswissenschaftlichen Blick« widmet, sich mit Ernst Blochs Altneuland, Programm des Zionismus auseinandersetzt, eine Propagandabroschüre der Reihe Was und Wie aus dem Jahre 1988 zum Thema Jüdische Bürger in der DDR analysiert und schließlich aus Die ersten beiden Sätze für ein Deutschlandbuch von Johannes Bobrowski (Textauswahl zum Literaturunterricht 11. und 12. Klasse, S. 310) zitiert. In einem Vom gelben Fleck zum blinden Fleck betitelten Schlußkapitel geht er auf die heutigen Debatten in Deutschland zu den Juden und zu Israel ein und stellt fest, daß »Klischees, Dogmen und Tabus« die Szene beherrschen.
Und genau darum geht es ihm mit seinem Buch: Klischees und Tabus aufzubrechen, Dogmen in Frage zu stellen. Nicht Reinwaschung der DDR ist dabei sein Anliegen. Mitnichten macht er einen Bogen um den Antisemitismus dort, wo er auch in der DDR-Politik eine Rolle spielte, nicht ausgespart bleiben die vielen Widersprüche im Antifaschismus des verschwundenen Landes. Aber überzeugend weist er nach, daß die klischeehafte Verdammung von allem, was in der DDR geschehen ist, nicht aufklärerisch ist, sondern nur den Nährboden für neue Klischees bildet und: für die Reinwaschung der Geschichte der alten BRD.
Klischee statt Aufklärung aber ist eine denkbar schlechte Grundlage für die Bekämpfung des neuen wie auch des alten Antisemitismus, von dem wir längst wissen, daß er in allen Teilen und Bevölkerungsschichten Deutschlands gleichermaßen schwelt.

Matthias Krauß: Völkermord statt Holocaust. Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR. Ein Nachlesebuch, Anderbeck Verlag 2007, 203 Seiten, 14,80 Euro