Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 23. Juli 2007, Heft 15

An eines dunklen Tages Morgen

von Martin Nicklaus

Eine unwirkliche Zeit. Aufstehen vor dem Aufstehen. Kaum eingeschlafen, geht der Wecker. Obwohl Sommer, lastet noch schwere Finsternis auf der Stadt. Zerschlagen und müde die Verrichtung notwendiger Dinge. Tasche greifen, losgehen. Matter Glanz auf von kurzem Regenguß benetzten Straßen. Selbstgefällig spiegeln sich auf ihnen die Laternen. Werfen fahlweißes, kaltes Licht ohne Helligkeit. Menschen gibt es noch nicht. Der Erste erscheint auf dem U-Bahnhof. Es ist der Fahrer. Andere leckten kurz zuvor den Boden. So sieht er jedenfalls aus. Also doch Menschen unterwegs, unsichtbar.
Massive Beleuchtung hier, wieder weiß und kalt. Diesmal grell reflektiert von großformatigen Wandfliesen. Eine Dunkelheit hoch minus Eins. Klinikatmosphäre. Hat die Heimat ihr tristestes Kleid zu meinem Abschied angelegt? Um ihn mir zu erleichtern? Wird ihr kaum gelingen. Zu öde mein Ziel, zu dumpf die Menschen dort, zu entseelt die Hotelzimmer, fern der Familie, ohne Freunde, umgeben von rauhen Gegnern. Nennen sich euphemistisch Geschäftspartner. Urlaubsassoziation: Swimming with the sharks. Stings Stimme klingt in mir. Und der Haifisch, der hat Zähne …
Der Ostbahnhof erwacht bei meinem Eintreffen. Nicht meinetwegen, sondern wie jeden morgen. Nur ein Stand offen. Kaffee und Baguette bitte. Von rechts drängen weitere Käufer, dynamisch, voller Energie. Geradezu widerlich. Erst keine Menschen, nun nerven sie.
Moderne Bahnhofästhetik. Keine dampfende Lok fährt quietschend Wagen an den Bahnsteig. Surrend – wie eine Nähmaschine – rauscht eine flachgelegte Rakete vor. Stromlinienexpreß. Kalter Stahl gelackt. Gelackt auch viele Fahrgäste. Aus der Hauptstadt in die Bankenstadt. Wiglaf Droste: »Identische Männer mit identisch gestreiften Hemden, identisch dunklen Anzügen, identischen Aktenkoffern und identischem Gesichtsausdruck.« Nur eine Veränderung zu Drostes Text von 1993: Die Hemden sind inzwischen einfarbig. Gestern blau, heute flieder. Die ganz Hippen tragen braune Schuhe, Budapester, handgenäht, oder Imitat. Ganz egal ob das Braun zur Farbe des Anzugs paßt.
Meine Sitzreihe steht entgegen der Fahrtrichtung. Zeit zur Rückschau. Über Land fliegt am Fenster nur Schwarz vorbei. Blick nach draußen, oder in die Zukunft? »Our darkness« ruft Anne Clark in meinem Kopf. Später »Sleeper in Metropolis«, der ich jetzt gern wäre. Natürlich nicht in Annes kranker Stadt. Ich nutze im Zeitalter von I-Pod, musikdudelnden Handys und tragbaren CD-Playern ein System zur Musikspeicherung, das heute kaum noch einer kennt. Es heißt Hirn.
Wo Koryphäen Feldbusch, Bohlen, BILD heißen, kann kein Hirn sein.
Lange Tunnel, manchmal Lichtpunkte. Hirn spielt ein Stück von Metallica: »And it comes to be, that the soothing light at the end of your tunnel, is just a freight train coming your way«. Knapp und unlyrisch: Das Licht am Ende des Tunnels ist der entgegenkommende Zug. Und über der Tür die LCD-Anzeige in dunklem Rot: 210 Stundenkilometer.
Zuletzt raste ein Zug im Tunnel derart schnell in einer Geschichte von Dürrenmatt. Dann donnerte er in den Abgrund. Dürrenmatts Metapher zum selbstgewählten Weg der Menschheit. Kein Hunger, ich trinke den Kaffee. Darkness flüssig. Doch ich vertrage keinen Kaffee, vergesse es aber ständig. Hoffe aber, das Unwohlsein konservieren zu können. Bin übellaunig, gereizt und neige zu kurzangebunden Unverschämtheiten. Die optimale Grundhaltung für den zu erwartenden Arbeitstag.
Ein paar Rehe heben sich als Schattenriß von einem Feld ab und verschwinden schnell hüpfend in einem schwarzen Block, wahrscheinlich ein Wald. Die Sonne schläft noch. Nichts bringt Licht ins Dunkel.
»Pling«. In die Ruhe hinein startet ein Notebook. Bankmensch fährt ein wichtiges Gesicht hoch. Tastenklappern. Schließlich wird ihm seine Angeberei selber zu doof. Das Spielzeug wandert wieder in die Tasche.
Am Horizont schimmert vernebelte Helligkeit. Morgengrau. Like a rainbow in the dark, findet Hirn einen alten Titel von Dio. Er soll mir Mut machen.
Die Nähe zum Ziel bringt Bewegung ins Abteil. Schlipsträger berichten per Handy von ihrer planmäßigen Ankunft. Einweggespräche. Sie wollen alle nur ihren superschicken hypermodernen Funkschnickschnack vorführen. Wenn sie morgen aufwachen, ist der bereits wieder uralt.
Sechshundert Kilometer Anfahrt zur Tretmühle. Entfremdete Arbeit in Reinkultur. Soll mir die Angelegenheiten anderer zu eigen machen. E-Mail, Videokonferenz, Mobilfunk, Internet, alles möglich. Aber der Auftraggeber braucht mich auf Backpfeifenentfernung: »Sei froh«, sagt man mir und ergänzt, »oder willst du Böden lecken für einen Euro?« Was für Alternativen. Da ist nichts froh in mir. Nur ein dumpfes Gefühl: Pflichterfüllung. Müssen ohne Wollen.
Abstiegsangst meint ihr? Wenn es nur darum ginge, Kreisklasse zu spielen, dann gerne. Es geht aber darum, überhaupt mitzuspielen, ohne selbst Hai zu werden. Ein Leben in Würde. »Wir müssen vorspiegeln, daß wir uns ausliefern, und uns nie preisgeben«, kommentiert Gómez Dávila. Erich Kästner sprach volkstümlicher: »Nie darfst du so tief sinken, von dem Kakao, durch den man dich zieht, auch noch zu trinken.« Na Gott sei Dank, bin ich Biertrinker. Heute ein Schwarzbier. Dazu Meditation über Adornos Satz: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«