von Klaus Hart, São Paulo
Viele ziehen von Moskau, Istanbul oder nordafrikanischen Städten nach Berlin, Frankfurt, Hamburg. Die Migrante Benedita Figueiredo, 40, hatte es erheblich weiter und blieb doch im eigenen Land. Vor über zehn Jahren legte sie von der archaischen Slumperipherie der nordbrasilianischen, tropisch-heißen Küstenstadt Fortaleza im engen Rumpelbus an die 3200 Kilometer bis in die südliche, subtropische Megametropole São Paulo zurück – drittgrößte Stadt der Welt, Wirtschaftslokomotive und Kulturkapitale ganz Lateinamerikas, mit über tausend deutschen Filialen. Das kosmopolitische São Paulo ist geprägt von Japanern, Deutschen, Russen, Italienern und Portugiesen. Doch annähernd die Hälfte der Bewohner sind Migranten des Nordostens, Nordestinos, schon an den Gesichtern und der meist geringeren Körpergröße leicht erkennbar.
»Es kam alles ganz plötzlich«, berichtet Benedita Figueiredo. »Meine Mutter sagte, wir gehen jetzt alle nach São Paulo, keiner bleibt hier. Dabei wohnten wir im eigenen Häuschen, die schönen Strände ganz nahe. Doch wir brauchten Arbeit, mußten Geld verdienen. Dem rennen wir bis heute nach und kriegen es nicht«. Sie lacht bitter-ironisch. Benedita ist Gelegenheitsarbeiterin, meistens Reinemachfrau, hat einen kleinen Sohn. Ihr Mann, über 50, zählt ebenfalls zum Heer der Tagelöhner, hat wie sie nur wenig Bildung und keinen Berufsabschluß.
Die Familie lebt nicht, sie überlebt – wie in Fortaleza wiederum an der Peripherie. Im Häuschen am Atlantik sind sie acht Kinder und hungern häufig. »Wie konntet ihr nur so viele Kinder machen, obwohl ihr wußtet, daß ihr sie weder ernähren noch in eine ordentliche Schule schicken könnt und es für uns später keine Arbeit gibt«, klagt eine Schwester Beneditas immer wieder den Macho-Vater an. Der grinst nur. Er wildert zuerst den nahen Wald leer, holt selbst den letzten Fisch aus dem nahen See, trotzdem reicht es nie.
Die Unterschichtenfrauen des stark unterentwickelten Nordostens wollen schon seit Jahrzehnten nur zwei bis drei Kinder. Doch die gewalttätigen Machos lassen das nicht zu, verbieten ihren Frauen gar die Pille. Denn Kinder gelten selbst heute noch als Potenzbeweise. In Beneditas Peripherie-Nachbarschaft sind Familien mit zehn, fünfzehn Sprößlingen keine Seltenheit. Mehr Kinder als andere zu machen, möglichst mit mehreren Frauen, so sagt eine Soziologin drastisch, sei für viele Machos wie ein Wettbewerb.
Die dadurch ausgelöste Bevölkerungsexplosion zählt zu den Hauptursachen der gigantischen Binnenmigration in Brasilien. »Gewalt und machistische Unterdrückung« rechnet auch die Kirche im größten katholischen Land zu den Migrationsmotiven. In der als Karnevals- und Urlaubshochburg gerühmten Nordost-Millionenstadt Recife ist heute Gewalt die erste, wichtigste Todesursache bei Mädchen und Frauen zwischen zehn und 49 Jahren.
Benedita Figueiredo arbeitete in São Paulo anfangs als Näherin, bis immer mehr Fabriken geschlossen wurden. Weil die Chinesen eben billiger produzieren. Die Arbeitslosigkeit ist heute überall im Lande hoch. Wo soll man da noch hin? Es gibt kein zweites São Paulo. Also bleiben die Menschen hier. Doch sie haben gewöhnlich kein Geld, enden daher im Slum. Die Megastadt hat bereits über zweitausend Elendsviertel, pro Woche kommen bis zu acht neue hinzu. Seit drei Jahren gibt es erstmals einen Rückfluß. 2004 strömten etwa 400000 Nordestinos in die Megacity – doch 457000 kehren in ihre Heimat zurück.
»Ja, viele hauen wieder ab. Aber wenn sie im Nordosten ankommen und sehen, wie es dort ist, wollen sie erneut nach São Paulo. Es ist ein Hin und Her jetzt. Hier landen sie wieder im Slum, sagen, das ist ja furchtbar, eine Kate über der anderen, ein Durcheinander, einer tritt dem anderen auf den Kopf,« klagt Benedita. Ihre Eltern gingen rasch zurück nach Fortaleza, hielten das häßliche Betonmeer São Paulos, Streß, Anspannung und Gewalt nicht aus.
Ein Anti-Hunger-Programm der Regierung, das verelendeten Familien ein monatliches Einkommen von umgerechnet etwa 23 Euro garantiert, hat neuerdings den Migrationsdruck im Nordosten verringert. »Die Kinder, die in den Slums von São Paulo aufwachsen, lernen etwas, sie versuchen, besser als die Eltern zu leben. Von denen, die sich nicht mit dem organisierten Verbrechen einlassen, gelingt das einigen sogar. Die anderen werden oft nicht mal fünfzehn Jahre alt, in der Verbrecherwelt tötet man sich gegenseitig. Mein Söhnchen Philip will Polizist werden, aber ich will den Lehrerberuf für ihn. Denn als Staatsbediensteter hat er ausgesorgt, selbst wenn er nur wenig verdient. Ich mache jetzt die technische Schule, lerne Apothekenhelferin.«
Nach Jahren hemmender Minderwertigkeitskomplexe ist das für Benedita Figueiredo ein enormer Entwicklungssprung. Brasilien, sagen die Sozialwissenschaftler, ist ein Land des Rassismus, der verdeckten Apartheid. Nordestinos wie Benedita Figueiredo, meist eine Mischung aus Indianern und Nachfahren der schwarzen Sklaven, werden häufig auf subtile Weise diskriminiert. Wer gesellschaftlich aufsteigen will, analysieren politisierte Nordestinos, muß nicht nur besser sein als die hellhäutigen Paulistanos, sondern muß dies auch unentwegt demonstrieren. Nordestinos seien gewöhnlich im Nachteil, weil sie erst als Erwachsene lernen, was weiße Paulistanos bereits auf der Schule wissen. Daher sei ein starker Wille nötig, um auf dem Arbeitsmarkt zu konkurrieren.
Benedita Figueiredo kennt diese Praktiken nur zu gut: »Nordestinos sind dunkelhäutig – und das ist schlecht fürs Firmenimage. Bewerben sich ein Weißer und ein Schwarzer, bekommt der Weiße die Stelle, der Schwarze ist zweite Wahl. Es heißt ja auch, heirate keinen Schwarzen, damit die Familie nicht dreckig wird. Ein schwarzes Baby zwischen den weißen, das wollen sie nicht. Wenn eine hellhäutige Frau einen Schwarzen heiratet, wird sie in der eigenen Familie diskriminiert, oft gar ausgeschlossen.«
Ungleichbehandlung spüren die Nordestinos auch in den prekären öffentlichen Hospitälern, während die fast durchweg weiße Mittel- und Oberschicht in Privatkliniken geht. Dazu Benedita: »Im Hospital haben die Ärzte gewöhnlich keine Lust, sind zu faul, uns ordentlich zu behandeln. Da wird man ruck-zuck mit ‘ner Pille weggeschickt, dann heißt es, komm in sechs Tagen wieder. Die Leute sind dann oft schon tot – wen kümmert’s?«
Auch die anderen Geschwister von Benedita zählen weiter zur Unterschicht. Nur eine Schwester verdient in einer Behörde umgerechnet 720 Euro, sie könnte den Sprung in die Mittelschicht schaffen. Die Nordestinos fühlen sich gewöhnlich trotzdem in São Paulo mehr zu Hause, besser aufgenommen als in ihrer Heimat. Migrationsexperten sagen: Der Nordosten sei weiterhin jene brasilianische Region, die am meisten Bevölkerung vertreibe, den größten Menschenverlust erleide. Die Mobilität der über 185 Millionen Brasilianer sei phänomenal.
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