Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 28. Mai 2007, Heft 11

Türkische Chaostage

von Murat Çakir

Wer in den vergangenen Wochen die deutschen Medien verfolgt hat, mußte den Eindruck gewinnen, daß ein Großteil der türkischen Gesellschaft mit aller Macht die Demokratie erhalten wolle. Millionen waren auf die Straße gegangen, um gegen die islamische AKP und für den »laizistischen Staat« zu demonstrieren.
Schau her, auch die Türken warnten vor der Gefahr einer Islamisierung! Daß gerade die islamische AKP es war, die von den europäischen Eliten wegen der Umsetzung der neoliberalen Vorgaben der EU stets gelobt wurde – und inzwischen eine große Mehrheit der türkischen Gesellschaft sich gegen einen EU-Beitritt ausspricht –, fand hingegen kaum Erwähnung. Halb so schlimm, denn immerhin wird Kerneuropa künftig nun von zwei ausgesprochenen Gegnern einer um die Türkei erweiterten EU, Merkel und Sarkozy, geführt. Was schert uns, wenn die Völker weit hinten in der Türkei sich die Köpfe einschlagen?
Wenn die Gefahr, die von der neuesten türkischen Krise ausgeht, nicht derart groß wäre, könnte man über die Berichterstattung schmunzeln. Doch wenn das Pulverfaß Türkei hochgeht, wird nicht nur in der gesamten Region ein Flächenbrand entzündet. Es würde ein Erdbeben folgen, dessen Auswirkungen auch die EU erschüttert.
Die nächtliche Putschdrohung der militaristischen Clique hat das Ausmaß der Krise offenbart. Es geht aber keineswegs nur um eine Auseinandersetzung zwischen dem Laizismus und dem Islam. Diese Erklärung wäre zu einfach. Sie ist sogar geeignet, die wahren Ursachen zu verdecken. Daß in der Türkei, wie auch in anderen Ländern, sich die Zahl derer, die sich als gläubige Muslime definieren, erhöht hat, ist angesichts der völkerrechtswidrigen Kriege und der »Kulturdeutungshoheit« des Westens eine völlig normale Entwicklung.
Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, daß die türkische Gesellschaft die säkulare Ordnung längst verinnerlicht hat. Während 1999 noch rund 21 Prozent der Türken eine islamische Ordnung favorisierten, ist diese Zahl 2006 auf rund neun Prozent gefallen. Und daß es gerade die Generäle selbst waren, die in den vergangenen Jahrzehnten den politischen Islam gegen die Gewerkschaften und linke wie kurdische Bewegungen gefördert haben, scheint oft in Vergessenheit zu geraten.
Der eigentliche Grund der Krise ist der Wille der militaristischen Clique zur Machterhaltung. Seit Gründung der Republik verfügt sie im Staat, in der Politik und in der Wirtschaft über weitreichende Privilegien. Die zutiefst antidemokratische Verfassung von 1982 hat diese Stellung verfassungsrechtlich institutionalisiert. Daher wird das Amt des Staatspräsidenten, eine symbolische Bastion des Status quo, von den Generälen verbissen verteidigt. Der Globalisierungsdruck, die Interessenkonflikte mit den USA und die imperialen Gelüste des türkischen Staates, als eine Regionalmacht in dem Dreieck »Kaukasus – Balkan – Naher Osten« zu wirken, haben die Widersprüche noch weiter verschärft.
Diese Widersprüche vertiefen zugleich die gesellschaftliche Spaltung und fördern eine Paradoxie zu Tage: Während die westlich orientierten alten Mittel- und Oberschichten, die stets von den Ressourcen des Landes profitierten, sich gegen die Demokratie wenden und nach der Armee rufen, klammert sich die AKP-Wählerschaft – darunter die neue konservative Mittelschicht und große Teile der Unterschichten – an die parlamentarische Demokratie und will ihrerseits an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft beteiligt werden. Doch trotz dieser Spaltung verbindet die Feindschaft gegen die kurdische Bevölkerung beide Lager.
Ohne zu zögern kamen deren politische Vertretungen im Parlament zusammen und beschlossen für die vorgezogenen Neuwahlen ohne Wenn und Aber und in großer Eintracht gegen die unabhängigen Kandidaten eines Bündnisses aus Kurden und türkischen Linken Einschränkungen. In der selben Zeit jagt die türkische Armee mit 20000 Soldaten kleine kurdische Guerillagruppen. Die türkischen Medien berichten, daß am Ort des Geschehens rund tausend Zivilisten die Truppen anfeuern.
So gehen die türkischen Chaostage weiter. Aber wer erwartet, daß nach den Wahlen am 22. Juli sich die Situation wieder normalisieren würde, irrt. Am Rande des Abgrunds schleudert sich die Türkei in eine ungewisse Zukunft.