Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 28. Mai 2007, Heft 11

Flucht vor der Wirklichkeit

von Uri Avnery, Tel Aviv

Ich bin bei vielen Demonstrationen auf Tel Avivs Rabin-Platz gewesen, auch als er noch »Platz der Könige Israels« genannt wurde. Ich war bei der legendären »Demonstration der 400000« nach dem Sabra- und Shatila-Massaker dabei – tatsächlich waren es etwa 200000; auch dies noch eine eindrucksvolle Zahl. Ich war dort, als Yitzhak Rabin erschossen wurde. Ich war dort, als die Massen junger Leute dort auf dem Boden saßen, ihre Tränen trockneten und Kerzen für den Ermordeten anzündeten. Es wurde damals gesagt, die junge Generation sei endlich aufgewacht. Aber die junge Generation hörte mit dem Weinen auf und ging ihren Weg, als die Kameras verschwanden. Ich war dort, als 100000 spontan auf den Platz strömten vor lauter Freude, daß Ehud Barak die Wahlen gewonnen und Israel vom Alptraum Benyamin Netanyahu befreit hatte – auch wenn viele von ihnen es später bereuten.
Aber die Demonstration, an der ich letztens teilnahm, war anders als alle vorausgegangenen. Da waren Leute von der Linken und Rechten, Religiöse und Säkulare, von den Orientalen und Ashkenasim, Siedler und Friedensaktivisten, junge Leute (viele junge Leute) und Ältere. Irgendwann begegnete ich dem Knessetmitglied Effi Eitan, den ich als Faschisten Nummer Eins in Israel betrachte – und der mich wohl als den Zerstörer Israels Nummer Eins betrachtet. Wir ignorierten einander, aber wir waren beide dort. Es war ein Aufstand der Bürger, die zusammenkamen, um »Genug der Chuzpe!« zu schreien. Nach dem schändlichen Fiasko im Libanon hätten die verantwortlichen Politiker sofort zurücktreten sollen. Erst recht nach dem vernichtenden Bericht der Winograd-Kommission. Wie der Schriftsteller Meir Shalev, einer der Redner bei der Demonstration, sagte: »Herr Olmert, Sie sagten, Sie arbeiten bei uns – Sie sind gefeuert!«
Die Demonstration richtete sich gegen drei Personen: den Ministerpräsidenten, den Verteidigungsminister und den Generalstabschef des Krieges. Die Menge auf dem Platz konzentrierte ihren Zorn auf Ehud Olmert. Das war auch völlig gerechtfertigt. Olmert hat sich als arroganter und leichtfertiger Führer erwiesen, der uns mit minimalem Wissen über die Situation im Libanon und über die Fähigkeiten der Armee in einen Krieg gestürzt hatte. Er erkannte die Gefahren durch die Raketen nicht, denen die Zivilbevölkerung Israels ausgesetzt war. Er hatte auch keine Alternativen zum Krieg in Betracht gezogen. Das einzige Feld, auf dem er Experte war, waren Partei-Manipulationen.
Wessen wird Olmert beschuldigt? Daß er entschieden hatte, überstürzt den Krieg zu beginnen; daß der Krieg keine klar definierten politischen und militärischen Ziele hatte; daß er die Reservetruppen nicht beizeiten mobilisiert und sich nicht darum gekümmert hatte, daß das Militär entsprechend trainiert und ausgerüstet war; daß er die Bodentruppen nicht beizeiten in Einsatz brachte; daß er sich zu einem großen Bodenangriff erst im letzten Augenblick entschieden hatte, nachdem die UN schon eine Resolution zur Feuerpause ausgearbeitet hatte – und so das Leben von vierzig weiteren Soldaten verschwendete.
All diese Anklagen sind richtig – aber sie beinhalten auch ein großes Maß an Flucht vor der Wirklichkeit. Nach dem Krieg von 1973 wurde auch nicht gefragt: Warum reagierte Golda Meir nicht vor dem Krieg auf Anwar Sadats Friedensangebot? Warum vergeudeten wir nach dem Krieg von 1967 sechs lange Jahre mit Siegesfeiern, prahlerischen Reden und bauten Siedlungen, statt die einzigartige Gelegenheit am Schopfe zu packen und Frieden zu machen? Warum wurde das Staatsschiff wie ein Narrenschiff geführt?
Statt diese Fragen zu stellen, konzentrierte die israelische Öffentlichkeit ihre Frustration, ihren Zorn, ihre Proteste auf zwei Fragen: Warum wurden die Reservisten nicht einberufen? Warum wurden die Panzer und die Artillerie nicht am Vorabend des Krieges nach vorne gebracht? Berechtigte, aber sekundäre Fragen. Die Agranat-Kommission, die ernannt wurde, um den Krieg von 1973 zu untersuchen, hatte sich auch nur auf diese Fragen konzentriert. Die Massen demonstrierten deshalb. Menachem Begin ritt auf ihnen zum Sieg.
Dasselbe ereignete sich nach dem 1. Libanonkrieg. Die Verurteilung war ganz auf das Massaker in Sabra und Shatila konzentriert. Deswegen wurde die Kahan-Kommission berufen. Deswegen fand die legendäre Mega-Demonstration auf dem »Platz der Könige Israels« statt. Deswegen wurde Ariel Sharon aus dem Verteidigungsministerium getrieben. Aber die Hauptfrage wurde nicht gestellt: Warum waren Ariel Sharon und Begin überhaupt in den Libanon eingefallen? Warum waren ihnen die Golanhöhen mehr wert als Frieden, so wie Moshe Dayan Sharm-el-Sheik für wertvoller hielt als den Frieden? Warum begannen sie ein Abenteuer, das achtzehn Jahre dauerte und das Leben von mehr als tausend israelischen Soldaten kostete, einen Krieg, dessen anhaltende Folge das Zur-Macht-kommen der Hisbollah war?
Doch die eigentliche Frage ist nicht, warum Olmert den Krieg überstürzt begann, sondern warum er das überhaupt tat. Und darüber wird keine ernsthafte Debatte geführt – weder in der Knesset noch in den Medien noch bei öffentlichen Diskussionen. Das war nicht der Grund dafür, daß sich die Massen auf dem Platz versammelten. Das ist zu kompliziert. Das ist auch zu kontrovers. Es ist leichter, »Olmert, geh nach Hause!« zu schreien.
Ja, natürlich muß Olmert nach Hause gehen. Wir brauchen eine neue Führung, eine, die begreift, daß Israel nur dann zur Ruhe kommt, wenn wir Frieden mit den Palästinensern schließen, selbst um den Preis, die Siedlungen auflösen zu müssen. Wird dies ernsthaft diskutiert? Würde dies Hunderttausende auf den Platz bringen? Natürlich nicht.
Bei der Demonstration sprach – zum Mißfallen der Organisatoren – Meir Shalev auch das Thema »Besatzung« und das Thema »Siedlungen« an. Die Organisatoren wollten aber Einigkeit bewahren. Einige der Demonstranten protestierten, andere klatschten.
Während ich auf dem Platz stand – zwischen Männern, die gehäkelte Kipas trugen, und anderen in T-Shirts, zwischen orthodoxen Frauen mit langen Ärmeln und Frauen, die ganz unorthodox enge Jeans trugen, konnte ich einen bitteren Gedanken nicht verscheuchen: Wo, zum Teufel, wart ihr, als eure Stimmen so viele Leben hätten retten können? Ihr habt schließlich Olmert als Helden gepriesen, als er euch in den Krieg sandte. Und ihr Journalisten, die ihr – fast alle – die Leute zur Protestdemonstration gerufen habt, habt ihr sie nicht mit derselben Begeisterung aufgerufen, in den Krieg zu ziehen?
Was brauchen wir jetzt: eine bessere Vorbereitung für den nächsten Krieg – oder die Anstrengung, den nächsten Krieg zu verhindern? Eine Regierung, die noch einmal in den Libanon einfällt und vielleicht auch in Syrien, um die »Abschreckungsmacht der Armee wiederherzustellen« – oder brauchen wir eine Regierung, die ernsthaft mit Verhandlungen beginnt, um Frieden zu erlangen?

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, von der Redaktion gekürzt