Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 28. Mai 2007, Heft 11

Es kommt dicke

von Angelika Leitzke

Nachdem die Arbeitslosenzahlen angeblich nach unten rutschen und Josef Ackermann und Klaus Landowsky ausprozessiert haben, Rauchen weiterhin schlank macht, aber in den Kneipen passé sein muß und die Gesundheitsreform endlich über unsere Brieftaschen hereingebrochen ist, haben Politik und Medien in Deutschland nun ein neues Fressen gefunden, um die Nation bei der Stange zu halten: Die Deutschen werden im europäischen Wettbewerb um das Pfundezählen immer dicker. Natürlich nicht so dick wie der dickste Mann der Welt, der vierzigjährige Mexikaner Manuel Uribe, der mit 550 Kilogramm nicht mehr sein Bett verlassen kann. Eher nähern sich die Deutschen dem Taillenumfang des langjährigen Fußballmanagers Reiner Calmund, mit seinen 150 Kilo dennoch geradezu ein Leichtgewicht im Vergleich zu Uribe, weswegen er auch jüngst bei Sabine Christiansen mittalken durfte.
Die Lage ist ernst. Nicht nur, daß den deutschen Dicken ein zusätzlicher 13. Monatsbeitrag an die Krankenkasse droht, der auf Vorschlag des bei Christiansen anwesenden Chefs der Deutschen Betriebskrankenkasse an jene wieder auszuschütten sei, die sich gesund ernähren, sprich, sich rank und schlank durch das Leben retten. Nicht nur, daß sie an Bluthochdruck, erhöhtem Cholesterinspiegel und Bewegungsmangel leiden und somit, da diese Faktoren Krankheiten wie Krebs, Herzinfarkt oder Altersdemenz befördern, das Aussterben der Germanen beschleunigen. Und nicht nur, daß den Fetten die Anerkennung von Lebensgefährten, Arbeitskollegen wie der allgemeinen Öffentlichkeit in Schwimmbädern, Restaurants und öffentlichen Verkehrsmitteln entzogen wird, wo sie wegen ihrer Leibesfülle statt einem gleich drei Plätze wegnehmen. Nein, daß Problem der Dicken ist, daß für sie in der Gesellschaft keine Lobby mehr existiert, daß ihre Figur einfach out ist.
Vor ein paar Jahrzehnten war das noch anders. Der italienische Filmregisseur Fellini fand noch Gefallen an den Fettleibigen, räumte er ihnen doch in mehreren seiner Filmen eine Nebenrolle ein. Burkhard Spinnen ließ 1993 den dicken Mann im Meer in seiner gleichnamigen Story trotz Fettleibigkeit und Herzattacke nicht ersaufen, während Exkanzler Kohl dank seiner 130-Kilo-Figur zur selben Zeit zur Birne karikiert wurde.
Um noch weiter in die Geschichte zurückzugehen: Rubens liebte füllige Frauen, versetzte sie in seinen Gemälden aber mehr in die Sphäre der Mythologie oder himmlischen Geschichte, und Ludwig XIV. war der lebensgroßen Porträtierung durch seinen Hofmaler Hyacinthe Rigaud im Jahre 1701 durchaus würdig, obgleich der Sonnenkönig als 63jähriger auch nicht gerade an Magersucht gelitten zu haben schien. Last but not least schrieb Oliver Hardy als fülliger Partner von Stan Laurel Filmgeschichte und lachte sich darüber noch eines ins fette Fäustchen. Dicksein muß also irgendwie eine Sache epochaler Ästhetik sein und müßte demnach kunsthistorischer Analyse anvertraut werden.
Heute dagegen müssen Fettleibige fernab von jedem Rampenlicht und ausgestoßen aus der Sabine Christiansen-und-Ulla-Schmidt Gesellschaft, in der statt fast fat food und Freßorgien Gesundheitskost, Kalorienzähler und Krankenkassen regieren, ihr Leben im Molly Verein oder Club der einsamen Herzen fristen, wo sie mit Gleichgesinnten und Gleichaussehenden nicht etwa ihr nächstes Drei-Gänge-Menü bei Feinkost Käfer planen, sondern über Abnehmen, Abnehmen und nochmals Abnehmen diskutieren – sofern sie keine dicken Bretter bohren, einen Dickschädel oder eine dickes Fell besitzen, sprich, in irgendeiner anderen Weise herausragende Fähigkeiten besitzen, die zur Veredelung der deutschen Gesellschaft beitragen könnten, die an Gehirnschwund, Geburtenrückgang und grassierender Arbeitslosigkeit leidet. Und während amerikanische Hotels angesichts der Übergewichtigkeit der US-Bürger, die sich von pappsüßer Coca Cola, fettigen Pommes Frites und Pizza ernähren, entsprechende Hotelbetten eingerichtet haben, muß sich der dicke Deutsche in seinem eigenen Urlaubsland immer noch über die lustfeindliche Ritze legen, um als Single im Doppelbett Platz zu finden.
Kein Wunder, daß solche Ausgrenzungen zu weiteren nächtlichen Freßattacken am Kühlschrank oder zu Sponti-Einkäufen im Lebensmitteldiscounter führen. Geht es uns Deutschen einfach so gut, daß wir uns vollstopfen können bis zum Geht-nicht-mehr, um danach die Sandstrände von der Ostsee bis nach Mallorca mit unserer unappetitlichen Leibesfülle zu verunzieren? Oder leiden wir an gentechnisch irreparablen Defekten? Oder nehmen wir Brechts Erkenntnis: »erst kommt das Fressen, dann die Moral« ernster als die deutschen Aufsichtsräte und Vorstandsvorsitzenden, deren Bäuchlein pro Karriereschritt um weitere Ringe anwachsen? Oder zählen noch nicht genügend Bundesrepublikaner zu den Hartz-IV-Empfängern, die bei ihren Mindesteinkünften wohl kalkulieren müssen, was und wieviel sie essen, geschweige denn, daß sie sich eine einwandfrei funktionierende Körperwaage leisten könnten?
Oder sind wir nach den frustrierenden Ergebnissen der PISA-Studie schon so verblödet, daß wir nur noch fressend und saufend unser Leben auf der Couch vor der Glotze verbringen können, um uns unendliche Mengen von soap operas, Musikantenstadls oder Sabine Christiansen-Talkshows nebst Chips und Bier reinzuziehen?
Oder brauchen die Deutschen, um sich nicht allzusehr mit den eigenen Schwächen aufhalten zu müssen, nur von Zeit zu Zeit ein neues Feind- und Frustbild: langhaarige Linke, Neonazis, muslimische Extremisten, arbeitsunwillige Sozialhilfeempfänger, Raucher, Schwule oder eben einfach Dicke? Schließlich wirkt Sabine Christiansen im Beisein von Reiner Calmund noch ein wenig schlanker, als sie ohnehin schon ist.
Fragen über Fragen. Wir hoffen, daß sich die Bundesregierung ihrer bald annimmt, um nicht zu viel Zeit mit einem opulenten Mittagessen zu vertrödeln und selbst der Adipositas zu verfallen. Andernfalls bleibt den dicken Deutschen nur im Sinne Luthers zu raten: Warum rülpset und furzet Ihr nicht? Hat es euch nicht geschmacket?