Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 30. April 2007, Heft 9

Südwestdeutsche Geschichtsstunde

von Thomas Hofmann

Die haarsträubende, aber aufschlußreiche Trauerrede, mit der der aktuelle Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Günther Oettinger (CDU) seinen Vor-Vor-Vorgänger, Hans Filbinger (CDU) bei dessen Beerdigung eine Art Absolution wegen dessen bei Kriegsende als Marinerichter gefällter Todesurteile erteilen wollte, löste einen seltsamen Wiedergängereffekt auf mehreren Zeitebenen aus. Oettinger präsentierte sich – pflichtgemäß – als wirklicher Urenkel Filbingers und der Südwest-CDU in der verstockten Uneinsichtigkeit gegenüber den Verbrechen des NS-Regimes und seiner Anhänger. Den zu Grabe getragenen CDU-Ehrenvorsitzenden Filbinger jedoch erreichte nach jahrzehntelanger, verbissener Leugnung von Schuld noch bei seiner Beerdigung das Echo seiner Taten wie ein nachhallender Fluch der von ihm dem Henker Übergebenen. »Man dachte eigentlich, er würde jetzt wenigstens ohne Diskussionen beerdigt werden«, sagte ein CDU-Funktionär. Justitia ist wohl eine listige Dame, denn die Verschwörungstheorien und salvatorischen Bemäntelungen, mit denen Filbinger und seine Verehrer ab 1972 und verstärkt seit seinem Rücktritt 1978 bis heute für eine Rehabilitierung gestritten haben, dürften gerade auf Grund des Eklats um die fatale Totenehrung seines epigonalen Nachfolgers Oettinger nun definituv verstummen, jedenfalls in der CDU.
Die Totenrede des Ministerpräsidenten Oettinger bewirkte ein mittleres Erdbeben, stärker als vergleichbare Reden zur NS-Zeit, die bereits im vergangenen Jahr von Vertretern der »Stahlhelm-Fraktion« der CDU gehalten, Eklats verursacht hatten (Thomas Hofmann: Schäferspiele in Weimar, in: Blättchen 19/2006). Schon die Reden von Jörg Schönbohm in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, von Hermann Schäfer beim Kunstfest in Weimar und von Arnulf Baring im hessischen Landtag enthielten die gleiche Denkfigur: die Einebnung der qualitativen Differenz zwischen Tätern und Opfern des NS-Regimes. Noch nie jedoch wurde diese ideologiepolitische Operation so dreist vorgenommen wie durch Günther Oettingers Modellierung des »furchtbaren Juristen« Filbinger zum Nazi-Gegner und eine behauptete Nähe zum Hitler-Attentäter Graf von Stauffenberg. Und noch nie waren der Vortragende und die Person, der die historischen Revisionsversuche galten, Inhaber derartig hoher politischer Ämter. Zudem verband sie ein Verhältnis von Vorgänger und Nachfolger auch als Repräsentanten des rechten Flügels der Bundes-CDU. Kein Wunder, daß es im Blätterwald rauschte. Verstärkt wurde dies, als sich Bundeskanzlerin Merkel mit der Mahnung eingeschaltet hatte, beim Thema Nationalsozialismus müsse man »die Perspektive der Opfer und Verfolgten im Blick haben« und damit zum wiederholten Male auf wohltuende Weise ihre Prägung durch ein deutsches Pfarrhaus nach 1945 bewies.
Unter den zahlreichen Interpretationen und Spekulationen, die zu den Vorgängen aus den Medien nachgerade quollen, brachte die Berliner tageszeitung die Angelegenheit auf ihrem Titelblatt am 16. April auf die bündigste Formel: In ironischer Abwandlung eines PR-Slogans aus der Image-Werbung des Landes Baden-Württemberg hieß es dort als Überschrift zu einem Oettinger-Porträt: »Wir können alles, außer Geschichte!« Als Günther Oettinger vor zwei Jahren den alt-konservativen Erwin Teufel als Ministerpräsidenten ablöste, galt er als Exponent jener windschnittig-neoliberalen »Modernisierer«, welche die nationalkonservativen Obsessionen der Traditionsrechten im Zeitalter der Globalisierung für überholt und die »Analyse von Marktchancen« und »Standortfaktoren« auf IHK-Tagungen und Banken-Kongressen für das einzig zeitgemäße Metier eines Ministerpräsidenten halten. Wie ein Klon von »Cleverle« Lothar Späth, dem direkten Nachfolger von Filbinger, in Ostdeutschland bekannt als »Sanierer« von Zeiss-Jena: Wenige, schlichte Formeln eines kanonisierten Wirtschaftsliberalismus, mit Nachdruck vorgetragen, fungieren sowohl als geistig-kulturelles Laufstallgitter wie auch als Generalschlüssel für das Tor zur Welt(wirtschaft). Die angestrengt-verschwitzten Debatten der Altkonservativen um eine »Neubelebung des Patriotismus«, traditionelle »Frauenbilder« und »Familienwerte« sind nur Beiwerk von minderer Bedeutung, Reflexe einer alten CDU, die halt bedient werden müssen. Entsprechend gering dürfte das wahre Interesse des Günther Oettinger für derlei »Gedöns« sein. Schon seine Pläne, wertvolle Handschriften aus badischen Museen im Kunsthandel zu verscherbeln, sorgten vor einigen Monaten für Kopfschütteln über soviel Traditionsvergessenheit. Das Paradoxe an den Vorgängen ist, daß ausgerechnet der scheinbar so ideologieferne »Modernisierer« Oettinger von einer fundamentalistischen Rechten in der Südwest-CDU erst aufs Glatteis geführt und dann in den Sumpf des übelsten Geschichtsrevisionismus getrieben werden konnte. Frau Merkel mußte ihn dann vom Baum holen, assistiert von FAZ-Chef Frank Schirrmacher, der in einem lesenswerten Text Oettinger süffisant als »Mustermann wirtschaftsliberaler Gesinnung« charakterisierte, der das »Anstößige an seiner Entgrenzung des Begriffs der NS-Gegnerschaft nicht einsieht«: »Das Neue und Berechnende an Oettingers Vorstoß … ist, daß er nun die Semantik des Leidens in die Funktionsträger des Verbrecherregimes verlagert – ein Verfahren, das ausgiebig von diesen selber angewandt wurde, noch niemals aber von einem Repräsentanten des Staates bei einem Staatsakt.«
Der Text der Rede, die von Ministerpräsident Oettinger auf der Trauerfeier gehalten wurde, stammt vom Michael Grimminger, einem 46jährigen Mitarbeiter des Philosophie-Professors Günter Rohrmoser, dessen Berufung an die Landwirtschaftliche Fakultät (!) der Universität Stuttgart gegen erbitterten Widerstand Filbinger vor seinem Rücktritt 1978 durchgesetzt hatte. Rohrmoser fungiert seitdem als Filbingers »Reichsverweser« vor allem bei der Leitung des Studienzentrums Weikersheim, das dieser sich nach seinem erzwungenen Rücktritt als eine Art öffentlichen Altersruhesitz im Taubertal, weitab von den größeren Städten des Landes, mit Spenden der Industrie, unter anderem des Burda-Verlages (Focus) eingerichtet hatte. Nach dem Vorbild der neokonservativen think tanks in den USA sollte es jene »geistig-moralische Erneuerung« voranbringen, die man den Pragmatikern der Macht um Helmut Kohl von allein nicht zutraute. Mit Blick auf die Erfolge Ronald Reagans in den USA steuerte Filbinger seitdem, gestützt auf ein Kuratorium erzkonservativer Professoren, eine Fülle halböffentlicher und publizistischer Aktivitäten, mit denen nach US-Muster einflußreiche Finanziers mit konservativen Wissenschaftlern und Unions-Politikern zusammengebracht werden sollten. In den neunziger Jahren erfolgte eine starke Ausweitung der Aktivitäten der »Firma« Weikersheim nach Ostdeutschland durch Bildung von halbstaatlichen Filialen wie dem Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (Dresden), der Ettersberg-Stiftung (Weimar) oder dem Forschungsverbund SED-Staat an der FU Berlin. Im Präsidium wirkten nun neben Filbinger auch General a. D. Jörg Schönbohm, Innenminister, erst in Berlin, dann in Brandenburg, und dort Vorsitzender der CDU. Aber auch Philipp Jenninger, der 1988 nach einer Skandalrede zur Judenverfolgung das Amt des Bundestagspräsidenten hatte niederlegen müssen.
Aus diesem Umfeld stammt Michael Grimminger. 2002 war er als Redenschreiber im Referat 43 des Stuttgarter Staatsministeriums angestellt worden, 2003 hatte er für den Sammelband Hans Filbinger. Aus neun Jahrzehnten ein Kapitel verfaßt. Auf diese Konstellationen spielt FAZ-Chef Schirrmacher an, wenn er in seinem Text schreibt: »In den entscheidenden Passagen ist seine Trauerrede keine Würdigung sondern eine Polemik.(…) Es darf dahinstehen, ob Oettinger von seinem Redenschreiber hintergangen wurde. Der Eindruck drängt sich auf, hier habe ein polemisch-geschulter Kopf einmal versuchen wollen, wie weit man gehen kann.« Ein durch einen Soufleur gesteuerter Ministerpräsident als Sprechpuppe für geschichtsrevisionistische Provokationen? Das wäre eine neue Variante nach den ebenfalls auf Provokation und Krawall zielenden Reden, die Schönbohm, Schäfer und Baring im letzten Jahr selbst vortrugen. Ins Bild paßt auch, daß Weikersheim-Präside Jörg Schönbohm der Kanzlerin wegen ihrer tadelnden Worte an Oettinger flugs »parteischädigendes Verhalten« vorwarf und mehr Korpsgeist einforderte.
Der Freiburger Historiker Wolfram Wette, Herausgeber eines Buches mit dem Titel Filbinger – eine deutsche Karriere (2006), bezeichnete es als »unglaubliche Anmaßung«, daß Oettinger Filbinger in eine Reihe mit dem deutschen Widerstand rückte, indem er eine geistige Nähe zwischen dem Marinerichter und dem Hitler-Attentäter von Stauffenberg suggerierte: »das verhöhnt die wirklich Widerständigen und die NS-Opfer«. In dieser offenen Leugnung einer qualitativen Differenz zwischen Gegnern und Anhängern des Nationalsozialismus, Opfern und Tätern des NS-Regimes sowie zwischen Funktionsträgern der Kriegsmaschinerie und dem militärischen Widerstand des 20. Juli 1944 liegt der geschichtspolitische Kern des Vorganges, jenseits der tagespolitischen Aufgeregtheiten über interne Machtverhältnisse in der CDU.
Dabei folgen die konservativen Ideologiepolitiker altbewährten Mustern: Bereits Anfang der achtziger Jahre, seit Beginn der Amtszeit von Bundeskanzler Kohl, waren konservative Theoretiker darauf gekommen, aus neu arrangierten nationalkonservativen Geschichtsbildern eine Art von diesseitiger Zivilreligion zu destillieren, die man damals »nationale Identität« nannte. Dem nach der Jugendrevolte von 1968 und während der zwölf Jahre sozialliberaler Regierungen in Westdeutschland eingetretenen Wertewandel wollte man mit einer »geistig-moralischen Erneuerung« begegnen. Die gesellschaftspolitischen Modernisierungsfolgen sollten unter der Glasglocke eines kulturpolitischen Biedermeier kompensiert werden, das an der Adenauer-Zeit der fünfziger Jahre anknüpfte. Politisch erfolgreich sei nur, »wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet« (Michael Stürmer). Diesem Ziel verpflichtet war zum Beispiel eine symbolische Verbrüderung von Bundeskanzler Kohl und US-Präsident Reagan auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg im Jahre 1985. Dort sind amerikanische Kriegstote, aber auch deutsche Waffen-SS-Gefallene der Ardennen-Offensive begraben. Diese historisch-politische Großinszenierung im Umfeld der Stationierung von Mittelstreckenraketen geriet zum grandiosen Desaster, weil die internationale Öffentlichkeit eine Gleichsetzung der alliierten Befreier mit der Waffen-SS nicht hinzunehmen bereit war. Eher unbeabsichtigt war der »Historikerstreit«, der ausbrach, nachdem eine Gruppe konservativer Historiker um Ernst Nolte die Gleichsetzung der NS-Diktatur mit der stalinistischen Sowjetunion bekräftigte. Seine Kritiker sahen darin, vor allem wegen der Judenvernichtung, eine Relativierung der NS-Verbrechen.
Für konservative Geschichtspolitik war es schon Anfang der achtziger Jahre vordringlich, eine Deutungshoheit gegenüber dem Geschehen während der NS-Herrschaft zu erringen. Dabei bediente sie sich in einer Vielzahl von Fällen der Auflösung von Dichotomien: Täter waren auch Opfer, Opfer waren auch Täter, Anhänger des Regimes waren auch Gegner, Gegner waren auch Anhänger, Funktionsträger des Systems übten Widerstand, Widerstandskämpfer waren Teil des Systems, das NS-Regime war verbrecherisch, aber es zielte auf Abwehr des ebenso verbrecherischen Kommunismus, die Wehrmacht und die alliierten Militärs waren kriegführende Parteien, alle waren gleichermaßen Soldaten, an Befehl und Gehorsam gebunden, im Tod ohnehin gleich. Deutsche Soldaten vertrieben Menschen, Deutsche wurden von fremden Menschen vertrieben. Nachts sind alle Katzen grau. Die Vorgehensweise ist je nach Sachlage: Aufweichung und Nivellierung grundlegender Sachverhalte, die qualitative Urteile begründen, Gleichsetzung heterogener Phänomene, offensive Vereinfachung durch Ausblendung von Kontexten.
Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung des »Kalten Krieges« und der deutschen Vereinigung hieß die geschichtspolitische Zivilreligion der Konservativen nicht mehr »nationale Identität«, sondern »antitotalitärer Konsens«. Jetzt ging es nicht mehr um die »Überwindung von 1968«, sondern um die »Delegitimierung des Antifaschismus«. Seitdem gibt es das wohlfeile Wort von »den zwei Diktaturen«, die »vergleichende Diktaturforschung« und die Bekräftigung der Gleichsetzung von Rot und Braun.
Mit den Vorgängen um die Trauerrede für Marinerichter a. D. Hans Filbinger ist dieses Art von historisierender Quacksalberei einem ihrer Initiatoren mit ins Grab gefallen.