Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 2. April 2007, Heft 7

Menschenopfer

von Martin Nicklaus

Noch vor kurzem wurden wir in Sachen Bahn ob zweier in Zügen plazierter Bombenkoffer ganz verrückt gemacht. Weniger Beachtung jedoch fand die zeitliche Nähe der Fehlzündungen zur Diskussion über die Aussendung einer großdeutschen Armada an die Strände des Zedernstaates.
Einer der beiden libanesischen Laiendarsteller hatte zum Auftritt vor den Bahnhofskameras ein Trikot mit der Nummer 13 übergestreift. Alle Deutschen sollten in ihm den Bomber der Nation (Gerd Müller 1970 und 1974) erkennen. Das medial daraus komponierte Stück erinnerte an einen Satz Sartres: »Die Hölle, das sind die anderen.«
Monatelang stritten die Erbauer des Berliner Hauptbahnhofs, von Unkennern sakraler Bauwerke zur Kathedrale des Reisens hochstilisiert, über die Gestaltung einer Kellerdecke – dann fiel ihnen plötzlich die Fassade vor die Füße. Trotz fast verdoppelter Baukosten hatte man an Bolzen mit Muttern gespart. Welch tödliche Gefahren von modernen Gebäuden ausgehen, hatte einst schon Philip Kerr in seinem Roman Game Over beschrieben; aber derart Primitives war ihm nicht eingefallen. Berliner dagegen kannten solche Vorfälle schon vom Kaufhaus Lafayette.
In der Zeit fragte Thomas E. Schmidt Bahnchef Mehdorn: »Warum mußten Sie mit einem baltischen Architekturgroßfürsten dieses traurige Monstrum aushecken, dessen tragenden Elemente leicht und luftig aussehen, während das Schwere außen als loses Element darauf lauert, Ihre Kunden zu erlegen?«
Mehdorn selber wurde an anderer Stelle zitiert: »Der Bahnhof … hat … geschwächelt«, was »natürlich schade« sei. In Sachen Kunden erlegen hat die Bahn schon andere Ergebnisse abgeliefert, dabei wurde überhaupt nicht »geschwächelt«. Bei Eschede gelang ihr zum Beispiel das Unmöglichgeglaubte: Beim ICE platzte ein »Reifen«. Schuld an 101 Toten und 88 Schwerverletzten war, wie ein Gericht feststellte, ein Herr Niemand. Niemand hatte die Verwendung ungeeigneter Räder, geschweige denn deren nur oberflächliche Prüfung während Betriebes angeordnet oder gar zu niedrige Abriebsgrenzwerte und damit Kosteneinsparungen festgelegt.
Zwei Jahre später rauschte ein Express in ein Brühler Wohnzimmer, da Niemand den Lokführer unzureichend ausgebildet und ihn mit Fahranweisungen an einer Baustelle gänzlich verwirrt hatte. Niemand trat erneut auf den Plan, als es galt, eine innovativ billige Verbindung von Stahlträgern durchzusetzen. Und hat Niemand von der Bahn gerade keinen größeren Auftrag, werkelt er an anderer Stelle, wie seine Spuren im Schnee von Bad Reichenhall zeigen. Dort brach ein Hallendach unter der schweren Last von Inkompetenz, Schlamperei und Sorglosigkeit zusammen. Aber ganz sicher waren beim Bau ein paar Mark eingespart worden. Sparen auf Kosten der Sicherheit – wir sehen Vivians Forresters Terror der Ökonomie bei der Arbeit.
Hinreichend Desillusionierte rechnen das unter den angeblich unvermeidlichen Menschenopfern der zivilisierten Welt ab. Wie auch die etwa zwanzig täglich im Straßenverkehr geschredderten Mitbürger. Gleichzeitig gilt als Konsens, naserümpfend Völker als primitiv zu verurteilen, die vor Urzeiten einmal im Jahr rituell eine Handvoll Menschen massakrierten. Deren Primitivität lag augenscheinlich in der stark limitierten Zahl der Opfer. Denn irgendwie waren sich archaische Führer noch des Umstandes bewußt, daß die Funktionstüchtigkeit ihres Reiches sowie dessen Wohlstand von der Größe ihres Volkes abhingen. Eine Einsicht, die sich inzwischen verflüchtigte.
Heute wird gnadenlos ausgesondert. Schulabsolventen zum Beispiel. Zu Hundertausenden erfahren sie: »Euch brauchen wir nicht.« Immer häufiger laufen Jugendliche Amok. An dem Tag, an dem der Spiegel auf dem Titelblatt verkündete Wir müssen wieder töten lernen, griff sich ein junger Mann in Emsdetten mehrere Waffen sowie Bomben und zog in seine kleine Welt hinaus. Am Ende der Blutspur lag er selbst.
Eine nationale Liga Verdrängungswilliger einigte sich, die Sache als Amoklauf abzutun und sieht die Ursache in Videospielen. Andere, die an Verblödung nicht nachstehen wollen, meinen, die Band Sklipnot sei der Auslöser gewesen. Die richtige Antwort hätte gelautet: Electric Wizard. »So I’ll take my fathers gun and walk down to the street, I’ll have my vengeance now with everyone I meet.« Was die Ausbreitung von Rachegelüsteten angeht, stehen wir derzeit ganz am Anfang.
Inzwischen ist es amtlich: Arme sterben früher und sind häufiger schwer krank. In diesem Sinne könnte die – nach einem Vorbestraften Hartz IV benannte – Verarmungspflicht als terroristischer Akt von staatswegen begriffen werden. Ähnlich könnte man die ständige Anhebung der Grenzwerte für Pestizide in Lebensmitteln betrachten. Doch mit solchen Einschätzungen befinden wir uns in einer Welt hinter dem Spiegel. Zwei Libanesen hingegen, die aus den zweihunderttausend Bauanleitungen für Sprengsätze, die im Internet verfügbar sind, eine garantiert untaugliche fischen und dann ihrem Koffer noch einen Zettel mit Anschrift beilegen, sowie bisher inexistente iranische Atomwaffen werden zu einer unglaublichen Bedrohung aufgebläht. Vornweg Innenminister Schäuble. Als ideologisches Ein-Mann-Rollkommando propagiert er die Bedrohung durch den Islam. Wie eine Studie jüngst nachwies, wird er dabei von ARD und ZDF unterstützt, die mit ausgesprochen selektiver Berichterstattung das Feinbild abrunden.
Die Hölle müssen die anderen sein, damit hier die Selbstherrlichen, die Großkotze, die Möchtegerns, die Raffkes, die Gernegroße ohne Rücksicht auf Verluste ihre Spielchen treiben können. Erwachen setzt vielleicht ein, wenn Schäuble sein erstes Passagierflugzeug hat abschießen lassen. Aber auch das ist ungewiß.