Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 19. März 2007, Heft 6

Struppige Gedanken

von Gerd Kaiser

Der jüngste und erstmals vollständige Band der Struppigen Gedanken von Stanisław Jerzy Lec erschien Ende 2006, und damit vier Jahrzehnte nach seinem Tod. Denn: »Auf dem Friedhof der Worte liegen viele, welche die ewige Ruhe verdient haben, aber hier liegen auch Worte, die man erschlug oder die selbst Hand an sich legten.« Insgesamt 4711 Struppige Gedanken sind es, die im Verlag Noir sur Blanc zu guter Letzt veröffentlicht wurden, in dem auch alle vorhergehenden und zensierten Bücher mit Aphorismen des großen Polen erschienen sind. Denn: »Auf diesem Friedhof glaubt man noch an das Wunder der Wiederauferstehung.«
Jeder zivilisiert denkende Mensch sollte, so empfiehlt Umberto Eco, vor dem Einschlafen, so er dann noch einschlafen kann, drei, vier Aphorismen lesen. Die meisten Aphorismen von Lec sind politischer Natur, denn: »Jedes Jahrhundert hat sein Mittelalter.« Sein Mittelalter lag mitten im 20. Jahrhundert. Denn: »Aus einer Reihe von Nullen, sind leicht Ketten zu schmieden.« Er kannte eine »Epoche des Schweigens, die bis unter die Decke mit Gesprächsprotokollen vollgestopft ist«.
Geboren 1909 in Lemberg (Lwów), einer Stadt, die Polen nicht wenige große Wissenschaftler, Politiker und Schriftsteller gegeben hat, wurde der Dreißigjährige, Sohn des Barons Benon de Tusch-Letz, über Nacht und ohne sein Zutun Sowjetbürger. Im Stil Wladimir Majakowskis bedichtete er Stalin. Nicht lange. Denn er merkte: »Verbrechen wachsen sehr seltsam. Die Wurzeln sitzen sehr hoch oben, und die Früchte liegen unter der Erde«, und: »Nicht jede Salve verkündet eine Revolution«, und »Analphabeten müssen diktieren«.
1941 sperrte ihn das Großdeutsche Reich in seine Konzentrationslager. Aus dem Lager in Tarnopol gelang ihm die Flucht. Er schloß sich den Partisanen der Armia Ludowa an, schrieb unter dem Pseudonym Lukasz unter anderem für die Untergrundzeitung »Soldat im Kampf« (Żołnierz w Boju). 1944/45 diente er, zeitweise gemeinsam mit Marcel Reich-Ranicki, in der Polnischen Volksarmee. 1946 veröffentlichte Lec sein Kriegstagebuch und wurde Presseattaché der jungen Volksrepublik in Wien. Für vier Jahre. Dann emigrierte er nach Israel. Denn er wußte ja: »Meine Gedanken wachsen seit sechstausend Jahren.«
Zwei Jahre später kehrte er nach Warschau zurück. Denn: »Klagemauern sind für mich überall dort, wo Menschen erschossen worden sind.« Und: »Manche Fragen hat man erst nach gewissen Antworten.«
Nach dem polnischen Oktober 1956 wurde er der Aphoristiker nicht nur Polens, sondern Europas. Denn: »Die Gedanken sind frei. So sie die Grenzen nicht überschreiten.« Und: »Manche würden gerne die Jakobinermütze tragen, wenn sie denn ein Tarnkäppchen wäre.«
Lec sah hinter die Kulissen und ging den Dingen auf den Grund. Denn er wußte: »Jede neue Welle schwemmt neue Dummköpfe nach oben.« Und: »Die Dummen sind gar nicht so dumm, denn sie sind immer in der Mehrheit.« Er fand probate Mittel gegen die Dummheit und verabreichte sie auch, denn: »Man muß die Zahl der Gedanken so sehr vergrößern, daß es zu viele für die Aufseher sind.« Aber er kannte auch die Grenzen. Denn er fragte nicht nur sich: »Gut, Du bist mit dem Kopf durch die Wand. Aber was machst Du in der Nachbarzelle?«
Lec gehörte zu jenen, die Inlett zu Roten Fahnen machten, war aber Zeitzeuge, wie »andere, rote Fahnen in Inletts weicher Daunenbetten umwidmeten«. Denn: »Es gibt Virtuosen des Falschspiels.« Für alle Fälle empfahl er (vor einem halben Jahrhundert!): »Bei der Zerstörung der Denkmäler gilt es, die Fundamente zu erhalten. Denn die kann man immer wieder mal gebrauchen.«
»Warum schreibe ich Aphorismen?« Seine Antwort: »Weil mir die Worte fehlen!« Und er riet seinen Lesern: »Gebt eure Träume nicht preis, denn es könnte sein, das die Anhänger Freuds an die Macht kommen.«

Die Aphorismen übersetzte aus dem Polnischen Gerd Kaiser. Myśli nieuczesane. Wszystki (Struppige Gedanken. Alle), Wadawnictwo literackie Kraków und Noir sur Blanc Warszawa, 702 Seiten, 49 Złoty