Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 5. März 2007, Heft 5

Kalter Krieg

von miles

Sechs Jahrzehnte sind vergangen, seit Bernard Baruch, der US-amerikanische Wirtschaftspolitiker und Bankier, am 17. April 1947 das Wort vom cold war benutzte. Seitdem ist der Totschlag-Begriff im politischen Geschäft im Schwange – und nicht totzukriegen. Jüngst geisterte er wieder durch die Medien.
Das war, nachdem Wladimir Putin in München während der jährlichen Tagung der von der Gesellschaft für Wehrkunde aus der Taufe gehobenen Sicherheitskonferenzen die wehrpolitischen Interessen Rußlands dargelegt hatte. Wozu sonst hätte er nach München reisen sollen. Das bislang, von Ausnahmen abgesehen, einmütige wie einseitige Credo zahlreicher Politiker, Militärs und vor allem der unvermeidlichen Medienmeute lautet: Kalter Krieg! Putin ante portas!
Was eigentlich ließ Putin seine Gesprächspartner wissen? Erstens wandte er sich gegen die Vorstellung einer Welt, in der diese einem tonangebenden Souverän zu folgen habe. Zweitens bezeichnete er Entscheidungen über internationale militärische Optionen nur dann als legitim, wenn sie allein und ausschließlich von der UNO und keinesfalls allein von der NATO beziehungsweise der EU getroffen werden. Drittens, daß Rußland den Ausbau der NATO nicht als Modernisierung und der Sicherheit Europas dienend empfinde, sondern als Provokation, die das gegenseitige Vertrauen untergrabe und das Kräfteverhältnis grundlegend zuungunsten und auf Kosten Rußlands verändere. Genannt sei hier allein der Bau modernster Anlagen der USA von strategischer Bedeutung in Polen und in Tschechien.
Da das Thema zu ernst ist für politische Ergebenheits- oder Konfrontationsadressen und als Beitrag zur Meinungsbildung gedacht ist, wollen wir der Frage nachgehen: Wie ist der Stand wichtiger Rüstungsvorhaben Rußlands, und wie sehen sie im Vergleich zur NATO aus?
Über die Militärdoktrin Rußlands hat sich, wohl nicht zufällig nach München, Rußlands Verteidigungsminister Sergej Iwanow (inzwischen auf der Karriereleiter nach oben gestiegen) zu Wort gemeldet. Demnach sollen die Streitkräfte Rußlands noch in diesem Jahr siebzehn interkontinentale ballistische Raketen erhalten, dazu vier im Kosmos stationierte und nicht näher definierte Aggregate und ebenso viele Trägerraketen, sieben Panzer- und dreizehn Panzergrenadier-Bataillone, eine Staffel Fernkampfflugzeuge, jeweils sechs Flugzeug- beziehungsweise Hubschrauberstaffeln. Das macht, anschaulich gesagt, 210 Panzer vom Typ T-90 aus, sowie mehr als 450 Schützenpanzer (BMP), 72 neue Flugzeuge und ebenso viele Hubschrauber.
Mit diesen ersten Schritten reagiert Rußland auf die von den USA eingeleiteten Veränderungen. Die Konsequenz: Die Rüstungsspirale dreht sich. Nikolai Solowzow, Oberbefehlshaber der Strategischen Raketenstreitkräfte Rußlands, erklärte während einer Pressekonferenz in Moskau bereits, Rußland sei »im Bedarfsfall zu asymmetrischen Maßnahmen bereit«.
Regierungsoffiziell ist vorgesehen, im Laufe von knapp zehn Jahren in den Land- und Seestreitkräften etwa 45 Prozent der vorhandenen Kampftechnik zu erneuern. Das bedeutet deren Erneuerung in vierzig Panzer-, 97 Panzergrenadier- und fünfzig Luftlande-Bataillonen. Die Raketenstreitkräfte sollen über 34 weitere unterirdische Raketenstartanlagen und -führungszentren verfügen können sowie über 66 mobile Raketenstartrampen vom Typ Topol-M. Damit kämen insgesamt hundert neue Raketenkomplexe dazu. Die Luftstreitkräfte erhalten über fünfzig Strategische Raketenträger der Typen TU 160 und TU 95 MS, die Seestreitkräfte acht U-Boote vom Typ 955/955 A für strategische Zwecke und insgesamt in den kommenden zehn Jahren 31 neue Kriegsschiffe.
Das klingt alles eindrucksvoll und zielt tatsächlich auf eine nachhaltige Modernisierung und Vergrößerung des militärischen Potentials Rußlands. Nachfolgend soll diese Aufrüstung ins Verhältnis zu einigen ausgewählten – zumindest potentiellen – Aufgaben gestellt werden.
Bei Panzern, Kampfmaschinen, die Feuerkraft und Bewegung in sich vereinen, sollen bis 2015 nun 1200 Panzer neuester Entwicklung zugeführt werden. Allerdings sind von den derzeit vorhandenen 15000 Panzern etwa 9000 nicht oder lediglich bedingt einsatzfähig. Sie bedürfen einer mittleren oder generellen Instandsetzung, bei der mindestens ein Aggregat zu erneuern ist. 6000 weitere Panzer sind technisch und moralisch verschlissen. Eine ernsthafte Modernisierung der Panzerwaffe Rußlands würde erfordern, jährlich nicht weniger als tausend neue oder modernisierte Panzer der Truppe zuzuführen. Die derzeitig tatsächlichen – vor allem wirtschaftlichen – Möglichkeiten liegen weit darunter. Zu rechnen ist mit zweihundert, maximal dreihundert Panzern jährlich.
Im Vergleich: Die NATO verfügt derzeit über mehr als 30000 Kampfwagen, davon 15000 in Europa. Etwas mehr als zwei Drittel dieser Technik ist auf dem neuesten Stand.
Wie sieht es bei den Luftstreitkräften aus? Wird das in diesem Jahr angeschlagene Tempo der Modernisierung beibehalten (je siebzig Flugzeuge beziehungsweise Hubschrauber), dann sind das – hochgerechnet auf ein Jahrzehnt – jeweils 540 neue Fluggeräte. Momentan verfügen die Luftstreitkräfte Rußlands über etwas mehr als 4500 Flugzeuge und etwa 1200 Hubschrauber. Von 1800 Kampfflugzeugen bedürfen 1200 dringend einer Generalinstandsetzung, die meisten sind derzeit nicht einsatzbereit. Vor allem sind die Triebwerke verschlissen, zwei Drittel der Maschinen ist seit mehr als fünfzehn Jahren im Dienst, ein Drittel zwischen fünf und zehn Jahren. Lediglich fünf Prozent sind in den letzten fünf Jahren in Dienst gestellt worden. Ähnlich sieht es bei der Flotte aus.
Und bei den Raketenstreitkräften bietet sich folgendes Bild. In den kommenden neun Jahren sollen die Streitkräfte Rußlands insgesamt hundert Raketen erhalten, 66 mobile Startrampen vom Typ Topol-M (derzeit je Rakete ein Kernsprengkopf) und 34 weitere und zwar unterirdische Startanlagen. Durch technische Veränderungen von Topol-M können künftig je Rakete drei Sprengköpfe transportiert werden. Im Moment verfügt Rußland über 542 Raketenkomplexe, die etwa 1900 Kernsprengköpfe befördern können. Vor zehn Jahr waren es 726 landgestützte Raketenkomplexe mit insgesamt 3150 Kernsprengköpfen.
Da in den kommenden zehn Jahren neunzig Prozent der Raketen in den Streitkräften Rußlands außer Dienst gestellt werden müssen, weil sie veraltet sind, werden die Raketenstreitkräfte des Landes in zehn Jahren etwa 180 ballistische Raketen einsatzbereit haben, die maximal achthundert Kernsprengköpfe befördern können.
Das ergibt: 2016 wird sich das Kernwaffenpotential Rußlands mindestens noch einmal um die Hälfte verringert haben. Auch die Strategischen Raketenstreitkräfte der Flotte verringern sich bis dahin auf die Hälfte. Rußland wird demzufolge – gemessen am amerikanischen Raketenabwehrsystem, das jetzt massiv ausgebaut werden soll – bestenfalls über eine beschränkte »Gegenschlag«-Kapazität verfügen, keineswegs aber über ein wie immer auch geartetes Angriffspotential.
Angenommen, Rußland modernisiert in dem vorgesehenen Zeitraum und im geplanten Tempo seine Streitkräfte, dann wird es eine regional führende Kontinentalmacht bleiben, jedoch weit hinter den exzessiv aufrüstenden Militärmächten USA und China zurückliegen. Der durchschnittliche Anteil der Militärausgaben am Staatshaushalt der NATO-Staaten ist viereinhalb Mal höher als der durchschnittliche Anteil weltweit.
Der europäische Teil Rußlands wird derzeit von einer Armee geschützt, die 15000 Mann zählt, Karelien würde von einer einzigen Brigade verteidigt; zusammengenommen stehen sich in diesem Teil Mittel- und Nordeuropas zehn russische Divisionen sowie sechzehn Brigaden etwa fünfzig Divisionen und weiteren hundert Brigaden der NATO gegenüber.
Die derzeitige Weltlage veranlaßt Rußland, von drei potentiell gefährdeten Schwerpunkten auszugehen: in Fernost – mit China und Japan –, im Mittleren Osten – mit Pakistan, Afghanistan, Iran und Irak sowie Türkei – und im Westen – mit der NATO. Dafür stehen jeweils zwischen 100000 und 150000 Soldaten unter Waffen. Ein Anhaltspunkt: Allein in Tschetschenien waren zeitweise bis zu achtzigtausend Militärs der Streitkräfte Rußlands eingesetzt.
Ein »kalter Krieg« läßt sich mit all dem nicht führen.