Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 5. Februar 2007, Heft 3

Welchen Staat benötigt Israel?

von Uri Avnery, Tel Aviv

Am Ende des 1948er Krieges, in dem der Staat Israel gegründet wurde, war nur eine kleine Anzahl palästinensischer Araber geblieben. Der größte Teil ihrer Landsleute war geflohen oder vertrieben worden. Die kulturelle, soziale und politische Elite hatte schon zu Beginn des Krieges das Land verlassen. Der armselige Rest stand achtzehn Jahre lang unter einem Regime aus Einschüchterung und Unterdrückung, das sich »Militärregierung« nannte. Aber schon die zweite Generation faßte Mut und wagte es, den Kopf zu heben.
Nun ist eine dritte Generation herangewachsen. Viele ihrer männlichen und weiblichen Mitglieder haben Universitäten besucht und wurden Unternehmer, Professoren, Rechtsanwälte und Ärzte. Vor kurzem haben ihre Vertreter eine »Vision« veröffentlicht, die nicht nur die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung fordert, sondern auch Autonomie im Bereich der Religion, Kultur und im Bildungswesen.
Das ist eine revolutionäre Botschaft. Heute sind die arabischen Bürger eine selbstbewußte Gemeinschaft mit ihren eigenen (nicht anerkannten) Institutionen und politischen Parteien. Diese arabische Gemeinde ist jetzt doppelt so groß wie die jüdische Gemeinschaft 1948.
Die Existenz einer nationalen Minorität dieser Größe kann nicht ignoriert werden. Man kann nicht weiter behaupten, dieses Problem gäbe es nicht oder daß es mit ein paar Millionen Schekel mehr gelöst werden könne. Israel steht vor einer schicksalhaften Entscheidung, die nicht nur über die Art seiner Beziehungen mit seinen arabischen Bürgern bestimmen wird, sondern über den Charakter seines Staates selbst.
Israels Demokratie hat die Wahl zwischen zwei Alternativen:
Entweder entsteht ein Bürgerstaat, in dem alle Bürger gleich sind, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Nation, Religion, Sprache und Geschlecht. Im politischen Jargon Israels wird dies »ein Staat für alle seine Bürger« genannt – eine absurde Bezeichnung, denn wie kann ein demokratischer Staat nicht all seinen Bürgern gehören? Solch ein Staat befaßt sich nicht mit dem ethnischen Ursprung oder mit den religiösen Überzeugungen seiner Bürger. Alle Eltern können für sich entscheiden, wie ihre Kinder erzogen werden sollen – im Rahmen eines gewissen Parameters, der vom Staat festgelegt wird. Es wird keinen Unterschied zwischen jüdischen, arabischen und polynesischen Bürgern geben. Die Beziehungen zwischen dem einzelnen und dem Staat gründen sich allein auf die Staatsangehörigkeit. Als Vorbild könnten in dieser Hinsicht die USA gelten, in denen jede Person automatisch ein Teil der amerikanischen Nation wird, wenn sie die Staatsangehörigkeit erhalten hat.
Oder es entsteht ein Nationalstaat, in dem eine jüdisch-israelische Mehrheit Seite an Seite neben einer palästinensisch-arabischen Minderheit existiert. In solch einem Staat hat die Majorität ihre nationalen Institutionen, aber die Minorität auch, sie wird als nationale Entität mit klar definierten nationalen Rechten in bestimmten Bereichen wie Kultur, Religion, Bildung und so weiter anerkannt.
Vor einigen Tagen machte mich der Historiker Yossi Amitay auf einen Artikel aufmerksam, den Pinhas Lavon nur einen Monat nach der Gründung des Staates Israel geschrieben hatte. Lavon – der später Verteidigungsminister war – analysierte das Problem mit der arabischen Minderheit nach dem Krieg. Er sah zwei Alternativen: eine solche, in der es einer Minderheit erlaubt sein würde, autonome Institutionen in einem Staat zu bilden, der der Majorität einer anderen Nation zugehört. Die andere Alternative: einen »Staatswerte-Staat«, in dem alle Bürger nach einem universalen und gleichen Standard behandelt werden. Lavon bevorzugte die zweite Alternative, ein Staat für alle seine Bürger – genau wie auch ich.
Avigdor Liebermann stellte vor kurzem einen weiteren Plan vor: das sogenannte »Dreieck«-Gebiet – auf der israelischen Seite der Grünen Linie – zusammen mit seiner dichten arabischen Bevölkerung aufzugeben und im Austausch dafür das palästinensische Gebiet, auf dem jüdische Siedler leben, zu annektieren. Das Prinzip: Juden nach Israel, Araber nach Palästina.
Liebermann, der Rassist aus der früheren Sowjetunion, hat bei Stalin gelernt, daß man ganze Gemeinschaften wie Schachfiguren behandeln kann. Es ist allgemein bekannt, daß Liebermann die – sogenannte freiwillige – ethnische Säuberung aller Araber in Israel und in den besetzten Gebieten befürwortet. Nur wenige nehmen diesen Plan ernst, denn die meisten arabischen Bürger Israels leben weit entfernt von der Grünen Linie. Aber der interessante Teil dieses Tricks war nicht der »Plan« selbst, sondern die Reaktion der arabischen Bürger darauf. Keine einzige arabische Stimme erhob sich zugunsten dieses Plans. Die arabischen Bürger haben sich entschieden, Bürger Israels zu bleiben, selbst wenn ein palästinensischer Staat neben ihnen entstehen sollte.
Diese Gemeinschaft will sich in Israel in das Leben integrieren, in seine wirtschaftlichen, demokratischen Institutionen und in das soziale Gefüge. Es ist ihr bisher gelungen, dies zu tun, soweit es ihr möglich war. Sie unterstützt zwar mit ganzem Herzen die Schaffung eines palästinensischen Staates in der Westbank und in Gaza, möchte aber eine nationale Minorität in Israel bleiben – so wie amerikanische Juden die Schaffung des jüdischen Staates Israel unterstützten, aber selbst als Minorität in den USA blieben.
Und Israel seinerseits kann nicht 1,4 Millionen schwer arbeitende und Steuern zahlende Einwohner, die ihren Anteil am Bruttosozialprodukt haben, aufgeben. Die Geschichte zeigt, daß ein Land, das ganze Gemeinschaften vertreibt, immer verliert. Spanien hat sich nie von der Vertreibung der Juden und Muslime vor 500 Jahren erholt. Frankreich war von der Vertreibung der Hugenotten ernsthaft betroffen. Deutschland leidet an der Vertreibung und Ermordung der Juden noch heute.
Ich bin ein Israeli. Gewiß wünsche ich, im Staat Israel zu leben, wo die Mehrheit Hebräisch spricht und die hebräische Identität, hebräische Kultur und Tradition weiterentwickelt werden können. Das hält mich überhaupt nicht davon zurück, mich für eine Situation zu engagieren, in der die palästinensischen Bürger des Staates frei ihre eigene nationale Identität, Kultur und Tradition entwickeln und pflegen können.
Der Nationalstaat als solcher bleibt bestehen, weil er einem tiefsitzenden menschlichen Bedürfnis entspricht, einer Gruppe anzugehören. Aber immer mehr wird er zu einem multikulturellen, offenen und liberalen Staat, der (wenn auch schmerzlich) Millionen von Ausländern absorbiert, weil er nicht ohne sie existieren kann. Wenn der Staat Israel nicht von innen her explodieren will, dann muß er früher oder später solch ein Staat werden – ein israelischer Staat, in dem  der Palästinenser aus Akko in Würde zusammen mit seiner Frau aus Jenin leben kann.

Aus dem Englischen von E. Rohlfs und A. Butterweck; redaktionell gekürzt