Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 5. Februar 2007, Heft 3

Letzter Ausweg Suizid

von Gertrud Eggert, Peking

Mei steht noch immer unter Schock. Ihre beste Freundin hat sich kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag das Leben genommen. Seither fragt sich Mei, ob sie eine Mitschuld hat an dem Tod der Freundin. Sie kannten sich seit der Schulzeit, schlossen mit besten Noten die Schule wie auch das Universitätsstudium ab und begannen in einem der zahlreichen Joint-Venture-Unternehmen zu arbeiten. Beide lebten wie viele andere Frauen ihres Alters auch – allein in einem kleinen, aber eigenen Appartement in Peking. Sicher, der Arbeitsalltag ist lang und hart, und wenn sie am Wochenende zusammen ausgingen, dann wollten sie vor allem abschalten. Die Probleme der anderen interessierten sie wenig, auch Mei hatte meist weggehört, wenn ihre Freundin vom Konkurrenzdruck im Büro erzählte, vom Alleinsein an langen Wochenenden, vom Unverständnis der Eltern, weil sie den Mann, der ihr von ihnen vorgestellt worden war, abgewiesen hatte. Je mehr Mei darüber nachdenkt, wird ihr bewußt, daß auch sie niemanden hätte, wenn sie mal ganz down sein würde. Aber deshalb gleich ganz mit dem Leben abschließen?
Fast dreihunderttausend Chinesen jährlich sehen wie Meis Freundin keinen anderen Ausweg. Damit wählt im aufstrebenden Wachstumsland China durchschnittlich alle zwei Minuten ein Mensch den Freitod, und acht versuchen es. Laut chinesischen Untersuchungen kommen auf hunderttausend Bürger 23 Suizide. Damit liegt China um mehr als fünfzig Prozent über dem Welt-Durchschnitt, der bei fünfzehn Selbstmorden auf hunderttausend Bürger liegt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO spricht gar von 33 Freitoten auf hunderttausend Bürger in China, hat damit aber wohl vor allem die ländliche Bevölkerung im Auge. Auch chinesische Publikationen schätzen die Lage auf dem Land um ein Vielfaches dramatischer ein und sehen eine fast dreifach höhere Rate als in den Städten. Am meisten betroffen sind in jedem Fall vor allem junge Menschen zwischen fünfzehn und 34 Jahren. Sie kommen oft mit der zu hohen Erwartungshaltung an die schulischen Leistungen oder die berufliche Karriere nicht zurecht. Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2006 nahmen sich in Peking mehr als zehn Studenten das Leben.
Der Suizid ist mit neunzehn Prozent die häufigste Todesursache in dieser Altersgruppe. Im Unterschied zu anderen Ländern nehmen sich in China vor allem junge und unverheiratete Frauen das Leben. Ihre Suizidrate liegt um 25 Prozent höher als die bei den Männern.
Wie überall auf der Welt sehen auch chinesische Experten in der Nichtbewältigung privater Konflikte den wesentlichen Grund für die hohe Suizidrate und nennen in diesem Zusammenhang: Krankheit, enttäuschte Liebe, gescheiterte Ehen, Familienzwist, aber auch Arbeitslosigkeit, Konkurrenzdruck, Streß und Mobbing. Doch während in den entwickelten Ländern auf ein Netz von Hilfs- und Beratungszentren zugegriffen werden kann, tut sich die chinesische Gesellschaft bisher schwer, dieses Thema überhaupt ernsthaft wahrzunehmen.
Das landesweit erste Hilfszentrum für Suizidgefährdete nahm erst Anfang 2005 in Peking seine Arbeit auf. Rund um die Uhr berät und betreut ein von Spezialisten aus Hongkong und den USA ausgebildetes Team die Gefährdeten vor Ort oder über zwei 24 Stunden am Tag geschaltete hotlines. Doch der Bedarf an professioneller Hilfe und kompetenter Beratung ist groß. Zwei- bis dreihundert Anrufe täglich gehen im Zentrum ein. Manchmal ruft ein und dieselbe Person mehrmals am Tag an.
Dem Pekinger Beispiel ist man bisher lediglich in Nanjing gefolgt. Auch dort gibt es jetzt ein solches Zentrum für Suizidgefährdete. In anderen Großstädten wie etwa Shanghai hat man es immerhin schon zu hotlines gebracht. Doch angesichts von grob geschätzten sechzehn Millionen psychisch Kranken im Land ist die Zahl von rund 15 000 Ärzten und Spezialisten im Bereich Psychologie und Geisteskrankheiten einfach zu gering. Nach chinesischen Angaben soll auch nur ein Drittel dieses Personals im Umgang mit Suizidgefährdeten Erfahrung haben.
Atemberaubend sind die Veränderungen und Entwicklungen in allen Bereichen des Landes – nur: Die Psyche der Menschen bleibt bei dem rasanten Wachstumstempen auf der Strecke. Auch in China sind Reformen und Modernisierung in erster Linie etwas für »Starke«, für »Gewinner-Typen«. Psychisch sensible Menschen wie Meis Freundin können schnell einsam werden in der pulsierenden, aber menschlich kalten neuen chinesischen Gesellschaft.