Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 19. Februar 2007, Heft 4

Kulturkampf vom Katheder

von Martin Behrens

Hätte es nicht jene mütterliche Liebe der Kirche gegeben, (…)
auch wenn sie am Ende den mündig gewordenen Bürger
allzu sehr bedrängte (…), wären die europäischen
Völkerscharen in arabische Räuberhaufen ausgeartet.
Georg Friedrich Sartorius,
Geschichte des Hanseatischen Bundes, Göttingen 1802

Die Scharia sei, »egal wie abgemildert, auf radikalste Weise (…) anti-menschenrechtlich«, befindet der renommierte Greifswalder Althistoriker Egon Flaig in der Januar-Ausgabe des Greifswalder Uni-Magazins Moritz in einem äußert scharfsinnigen und in vielen Punkten zutreffenden Essay: Djihad und Dhimmitude – Warum der Scharia-Islam gegen die Menschenrechte steht. Der Aufsatz ist eine überarbeitete Version eines Flaig-Artikels aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. September 2006. Wegen Beleidigung des Islams war in Ägypten diese FAZ-Ausgabe verboten worden. Vordergründig mag durch dieses Verbot Flaigs These von der fehlenden »Toleranz des Islams« bestätigt werden.
Neu sind Flaigs Thesen nicht. Er strebt immer wieder den Vergleich von Djihad und Kreuzzügen an, wobei er auf die Feststellung wert legt, daß »die rechtlich fixierte Unterdrückung Andersgläubiger (…) unter dem Halbmond deutlich schwerer als unter dem Kreuz« gewesen sei. »Was die Kreuzfahrer 1099 in Jerusalem anrichteten, das hatten die moslemischen Heerführer schon längst unentwegt praktiziert: 698 traf es Karthagos, 838 Syrakus; (…) es traf Zamora (981), Coimbra (987)«, und so weiter.
Historisch liegt Flaig ja richtig. Dennoch ist seine Auflistung an Perversion kaum zu überbieten. Massaker gegeneinander aufzurechnen, halte ich historisch wie politisch für illegitim, wenngleich eine Dämonisierung der Kreuzzüge sicher auch ahistorisch wäre. »Was haben wir nun wissenschaftlich gewonnen?«, fragt Flaig in anderem Zusammenhang. Hier möchte ich diese Frage nun in den Raum stellen. Flaigs Argumentation ist in ihrer Essenz chauvinistisch: Er versucht eine kulturelle Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Islam zu konstruieren und historisch zu legitimieren. Ein Beitrag zur Verständigung der Weltreligionen ist das jedenfalls nicht.
Gut: Der Historiker will provozieren, polemisieren. Das ist legitim und für die Entwicklung der Wissenschaft vielleicht sogar unabdingbar. Doch Flaigs Artikel provoziert die Frage nach der Aufgabe der Geschichtsschreibung: Was soll, was kann, was darf sie leisten – und was nicht?
»Seine Vergangenheit nicht zu kennen heißt, sie wiederholen zu müssen. Wer weiterhin das Märchen von der islamischen Toleranz verbreitet, behindert jene muslimischen Intellektuellen, die ernsthaft an jener Reform des Islam arbeiten«, heißt es in seinem Essay für die FAZ. Dem ist zu widersprechen: Wenn uns die Geschichte eines gezeigt hat, dann das, daß wir nicht aus ihr lernen können. Historiker sollten sich davor hüten, die Geschichtsschreibung zu instrumentalisieren.
»Viele Muslime leugnen die Dhimmitude«, die Ungleichbehandlung von Nicht-Muslimen im Islam, so Flaig. »Wenn das Leugnen weitergeht und wenn die Wissenschaft selber zum Terrain wird, auf dem die Leugner nach Belieben (…) diffamieren dürfen, dann können nur noch Anti-Leugnungsgesetze helfen (…). (Diese) greifen leider tief ein in den freien Austausch der Gedanken. Aber sie sind die logische Folge einer Wandlung des intellektuellen Feldes: nämlich wenn die wissenschaftliche Praxis nicht mehr universalen Regeln auf Wahrheit verpflichtet ist, sondern wenn ein multikulturelles Eigenrecht die Intellektuellen jeglicher Kultur auf ›ihre eigene‹ Wahrheit einschwört.«
Hier zeigt sich die Angst Flaigs vor einer »Hinrichtung der Geschichte«, die er 2006 bei der Tagung Wahre Geschichte – Geschichte als Ware vortrug: Auch dabei drehte es sich um die Frage nach dem »Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« (Nietzsche). Geschichte, fürchtet Flaig, könne vollständig für das kulturelle Gedächtnis instrumentalisiert werden. Er plädiert daher dafür, daß die Geschichtswissenschaft eine Wahrheit annehmen müsse, die sich auf eine »äußere, objektive Realität« bezieht. Das ist durchaus zutreffend, doch Flaig läßt sich mit seinem Essay genau vor den von ihm kritisierten Wagen spannen: Er läßt sich instrumentalisieren. Mit seinem Ansatz versucht er, das kulturelle Gedächtnis des Christentums reinzuwaschen, statt nach den tieferliegenden Ursachen des aufkeimenden Islamismus zu fragen. Zeigte nicht die extreme Reaktion der islamischen ägyptischen Regierung, daß sie bemüht ist, der Radikalen im Lande Herr zu werden? Beschreibt Flaig nicht gerade die politische Instrumentalisierung des Islams und Djihads? Letzterer ist bekanntlich Interpretationssache. Daß er ein theologisch gerechtfertigter Angriffskrieg sei, ist völliger Unsinn.
Die Hintergründe aber, die zur Radikalisierung in Teilen des Islams führen, spart Flaig aus; auch, daß es – weltweit – einen wachsenden religiösen Fundamentalismus gibt und daß die Perspektivlosigkeit in der »islamischen Welt« – ein meines Erachtens furchtbarer Begriff, der vor allem der Manifestation einer fiktiven Opposition zweier Lager dient – ihr übriges dazu beiträgt. Woraus ist diese Perspektivlosigkeit entstanden? Die Tendenzen der Kolonialisierung islamischer Regionen durch europäische Mächte sind ja nicht neu.
»Viele Rechtsgelehrte definieren den Djihad als individuelle Pflicht«, so Flaig. Die Konsequenz: »dann sind Attentate und Terroranschläge das Richtige (…) Al Qaida ist keine Verirrung, sondern entspricht dieser Traditionslinie.« Aber es ist eben nur eine Traditionslinie. Flaig selber konzediert, daß über diese Linie »fatalerweise (…) innerhalb der orthodoxen Tradition seit dem 9. Jh. keine Einigkeit« herrsche. Ist das nicht ein positives Zeichen?
»Wie der Nationalsozialismus die Menschen in Herren- und Untermenschen auf rassischer Basis spaltete, so hat es die Scharia auf religiöser Basis getan«, behauptet Flaig. Dies ist natürlich völliger Irrsinn. Gleiches ließe sich auch über das Alte Testament der Christen und die Mishneh Torah der Juden sagen: »Heute wirst du erkennen, daß der Herr, dein Gott, wie ein verzehrendes Feuer selbst vor dir hinüberzieht. Er wird sie [die im Unrecht sind, MB] vernichten und er wird sie dir unterwerfen, so daß du sie unverzüglich vertreiben und austilgen kannst, wie es der Herr dir zugesagt hat.« (Dtn 9,3-5. Buch Mose).
Was Flaig betreibt, ist übelster Kulturkampf, der leider immer mehr Akzeptanz im akademischen Feld gewinnt. Bei Lichte besehen ist Flaigs Paradigma aber vielleicht gar nicht so neu, sondern in jene Kontinuität einzuordnen, die sich schon vor zweihundert Jahren bei Satorius offenbarte (siehe oben).