Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 19. Februar 2007, Heft 4

Friede

von Emil Peschkau

In allen Kirchen wurde zu Gott gebetet: »Herr schenke uns Frieden!« Und aus jedem Palast und jeder Hütte falteten sich die Hände empor: »Frieden, Herr, gieb uns nur Frieden!«
Da hatte Gott Erbarmen, und der liebste seiner Engel schwebte hinab auf die Erde.
Aber schon nach wenigen Tagen kehrte der Friede zurück. In seinen Zügen war eine tiefe Trauer zu lesen, und auf seiner Stirne klaffte eine blutige Wunde. »Verzeihe, Herr!«, sagte er bittend, »die Menschen bedürfen meiner nicht.«
»Sie bedürfen deiner nicht? Sie, die täglich um Frieden beten?«
»Laß Dir erzählen, Herr, wie es kam«, antwortete der Engel. »Ich war ja nicht säumig, ich bin zu allen gegangen, aber nirgends konnte ich helfen, nirgends war ich willkommen. Ich kam zu Nachbarn, die im Zank lagen, und jeder sagte mir: »Gieb mir mein Recht!« Ich ging zu streitenden Eheleuten, zu Eltern und Kindern und jedes verlangte nur seinen Willen. Ich ging zu den Armen und sie sagten: »Mach uns reich!« Ich ging zu den Reichen und sie sagten: »Laß die Armen in Fesseln!« Ich ging zu den Priestern, und sie forderten nur Gläubige für ihre Kirchen. Ich ging zu den Führern der Nationen, und sie zeigten mir unermeßliche Magazine voll von Mordwerkzeugen, und sie sagten: »Gieb uns noch mehr!« Keiner hieß mich willkommen; alle meinten, wenn ich nur ihre Wünsche erfüllte, dann hätten sie ja den Frieden. Das aber vermochte ich nicht, Herr, und so — kam ich wieder.«
»Und die Wunde, die Wunde auf deiner Stirn?«, fragte der Herr traurig und zärtlich zugleich.
Da neigte der Engel den Kopf und sagte leise, zitternd: »Ich stieß wider einen Baum … Verzeih mir.«
Und der Herr trat näher … sah in lange an … und küßte ihn auf die Wunde.

Aus: Simplicissimus, Jahrgang 1, Heft 5 vom 2. Mai 1896