Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 5. Februar 2007, Heft 3

Entschuldigung

von Mieczysław F. Rakowski, Warschau

Mieczysław F. Rakowski, von 1958 bis 1982 Chefredakteur der Polityka und in der Übergangszeit Ministerpräsident der Volksrepublik Polen und letzter 1. Sekretär des ZK der PVAP hielt im vergangenen Jahr auf einer ihn ehrenden Veranstaltung, die aus Anlaß seines 80. Geburtstages stattfand, eine Rede, in der er sich auch als »der letzte Erste« »vor allen Landsleuten (…) für die mehr als vier Jahrzehnte unterm kommunistischen Joch« entschuldigte:

Die Liste unserer Sünden ist lang:

Ich entschuldige mich, für die Aufhebung der Klassengegensätze, einer Herzensangelegenheit der kommunistischen Arbeiterbewegung und der linken Strömung in der Bauernbewegung;

ich entschuldige mich für die Bodenreform, von der einige Generationen von Bauern träumten und – erfolglos – kämpften;

ich entschuldige mich, für die Nationalisierung der Industriebetriebe (…);

ich entschuldige mich vor den Arbeitern, daß die Kommunisten ihnen das Gefühl der Würde gaben;

ich entschuldige mich, daß Millionen von Söhnen und Töchtern aus Bauern- und Arbeiterfamilien sozial aufgestiegen sind;

ich entschuldige mich, daß die Jugendlichen aus Bauern- und aus Arbeiterfamilien kostenlosen Zugang zu den Hochschulen hatten;

ich entschuldige mich, daß Schluß mit dem Analphabetentum gemacht wurde (…);

ich entschuldige mich, daß zwei Generationen von Polen ohne die Last der Arbeitslosigkeit lebten, in sozialer Sicherheit, ohne Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder;

ich entschuldige mich dafür, daß es auf Polens Straßen weder Bettler noch hunderttausende Obdachlose gab(…);

ich entschuldige mich bei den Wissenschaftlern, Schauspielern, Kulturschaffenden dafür, daß sie, dank des sozialistischen Staatswesens, wissenschaftliche und kulturelle Leistungen von Weltruf vollbrachten;

ich entschuldige mich für tausende Bibliotheken, erschwingliche Bücher, Kulturhäuser in Stadt und Land;

ich entschuldige mich dafür, daß in der Volksrepublik Polen Fachleute von Rang und hervorragende Betriebsleiter heranwuchsen (…);

ich entschuldige mich für den Wiederaufbau der von den Nazibesatzern zerstörten Städte und Dörfer, für den Wiederaufbau der Altstädte von Warschau und Gdańsk;

ich entschuldige mich für den Wiederaufbau ungezählter Kirchen, Schlösser und weiterer Kulturdenkmäler, die im Krieg zerstört worden sind;

ich entschuldige mich vor der bereits dritten Generation von Polen, die an Oder und Neiße ansässig geworden sind und in gesicherten Grenzen leben (…);

ich entschuldige mich für die Grundlinien der Wirtschaftspolitik, die zu meiner Regierungszeit den Weg zur Marktwirtschaft öffneten;

ich entschuldige mich für die Politik des Runden Tisches, an dem sich zwei gleichberechtigte politische Kräfte zusammenfanden, um eine friedliche Lösung der tiefen Krise zu suchen, die jahrzehntelang unser Land beschwert hat.

Liebe Freunde, dies ist die unvollständige Aufzählung meiner, wahrscheinlich unserer Schuld.

Aus »Dziś«, Warschau; übersetzt aus dem Polnischen und geringfügig gekürzt von Gerd Kaiser