Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 22. Januar 2007, Heft 2

Winterstarrer Gedächtnisort

von Lars Berthold

Das sogenannte Blaubuch der Bundesregierung enthält (nur) zwanzig Gedächtnisorte in Ostdeutschland, die für das kulturelle Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland von herausragender Bedeutung sein sollen. Einer dieser Orte ist das Nietzsche-Haus in Naumburg. Man sollte glauben, die Auszeichnung wäre Grund genug, das Haus zwölf Monate im Jahr offenzuhalten. Doch weit gefehlt: Wie der verdutzte Besucher in diesen Tagen feststellen kann, hat die museale Einrichtung zwischen November und März geschlossen. Grund soll der Versuch der finanziell gebeutelten Kommune sein, mit der Winterschließung Geld zu sparen. Doch welchen Sinn macht es, ein Museum zu betreiben, das fast ein halbes Jahr geschlossen ist?
In dem Haus lebte Nietzsches Mutter Franziska vierzig Jahre. Hier, am Weingarten 18, hat sie ihren Sohn als geistig Umnachteten in den Jahren 1890 bis 1897 gepflegt. Hier gründete Elisabeth Förster-Nietzsche, die von ihrem Bruder »Lama« genannte jüngere Schwester, im Jahre 1894 das (später berüchtigte) Nietzsche-Archiv, mit dem sie 1896 nach Weimar zog. Hier empfing Prinzipalin Lisbeth so illustre Gäste wie Harry Graf Kessler und Rudolf Steiner.
Der kurzfristige (und kurzsichtige) Versuch, durch eine dem Nietzsche-Haus verordnete Winterpause, diesen und jenen Euro zu sparen, könnte, was die Lokalpolitiker nicht bedacht haben, fatale Folgen zeitigen. Das Kapital einer strukturschwachen Stadt wie Naumburg ist der Tourismus, und das Nietzsche-Haus ist die zweite wichtige Sehenswürdigkeit nach dem Dom mit seinen Stifterfiguren. Wer aber Besucher düpiert, indem er ihnen den Zugang zum Nietzsche-Haus für die Dauer von fünf Monaten verweigert, begeht einen Fehler. Als Tourist fühlt man sich vor den Kopf gestoßen und wird deshalb nicht wiederkommen. Das aber scheint die Stadtverwaltung Naumburg, die so große Stücke auf den Status der Stadt als Besuchermagnet hält, nicht zu kümmern. Man will auf Teufel komm raus sparen – und das geht im Bereich der Kultur ja am einfachsten, weil hier kaum Widerspruch zu erwarten ist.
Doch sollten die, die über die Winterschließung des kulturellen Gedächtnisortes Nietzsche-Haus entschieden haben, dreierlei bedenken. Erstens: Das Haus wurde 1994 aufwendig (mit Steuergeldern!) rekonstruiert und mit einer informativen Dauerausstellung über das Leben Friedrich Nietzsches gestaltet. Es wäre an sich eine Pflicht, die damals getätigten Ausgaben durch das Offenhalten des Museums zu rechtfertigen. Zweitens: Das Land Sachsen-Anhalt vergibt alle zwei Jahre einen Friedrich-Nietzsche-Preis. Es berührt daher peinlich, wenn im Oktober eines jeden geraden Jahres diese Auszeichnung in Naumburg vergeben wird und man im November daselbst nichts Eiligeres zu tun hat, als das dem Namenspatron gewidmete Museum zu schließen. Drittens: Seit die Stadt Naumburg im Jahre 2001 mit Hilfe der Lotto Toto GmbH Sachsen-Anhalt die Bibliothek des US-amerikanischen Germanisten Richard F. Krummel ankaufte – die rund fünftausend Titel von und über Nietzsche in deutscher Sprache umfaßt! –, trägt man sich in Naumburg mit dem Gedanken, ein Nietzsche-Dokumentationszentrum neben dem Nietzsche-Haus zu errichten. Das Modell des Entwurfs, das aus einem Architekturwettbewerb des Jahres 2001 als Sieger hervorging, kann man im Nietzsche-Haus sehen – sofern es geöffnet ist. Durch die Schließung des Museums werden alle Bemühungen der prominent besetzten Stiftungsinitiative, Mittel für den Bau des Dokumentationszentrums einzuwerben, konterkariert. Potentielle Sponsoren werden zu recht die folgende Frage stellen: Warum sollen wir den Bau eines Dokumentationszentrums unterstützen, wenn die Stadt Naumburg nicht willens und in der Lage ist, das Nietzsche-Haus ganzjährig offenzuhalten?
Auf diese Frage sind die Stadtverwaltung und der Oberbürgermeister eine Antwort schuldig. Es hat den Anschein, als gebe man in Naumburg auf den Status des Nietzsche-Hauses als einen von zwanzig kulturellen Gedächtnisorten nicht besonders viel. Das stimmt bedenklich – und würde Nietzsche in seiner relativ schlechten Meinung, die er von seiner Mutterstadt und deren »Muckerluft« hatte, bestätigt sehen. Der Stadt Naumburg wäre Courage zu attestieren, wenn sie beantragen würde, das Nietzsche-Haus von der Liste der kulturellen Gedächtnisorte zu streichen. Die Begründung könnte lauten: Wir haben es nicht verdient, mit einem fünf Monate im Jahr geschlossenen Museum im Blaubuch vertreten zu sein. Das wenigstens hätte Stil.