Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 8. Januar 2007, Heft 1

Fiskalische Barbarei

von Jochen Mattern

Der Schriftsteller Christoph Hein berichtet in einem vor sechs Jahren erschienenen Zeitungsbeitrag von der Begegnung mit einem Beamten, der für die Kultur der neuen Bundesländer verantwortlich war. Dieser »habe feststellen müssen, daß im Süden Ostdeutschlands, in den Ländern Sachsen und Thüringen, alle vierzig Kilometer ein größeres oder kleineres Orchester unterhalten werde«. »Über diese fiskalische Barbarei« habe der Beamte nur den Kopf schütteln können und ihm, Christoph Hein, gesagt: »Das müsse rasch auf ein verträgliches Niveau gebracht werden.« Was sich seinerzeit erst in Umrissen abzeichnete, geht mittlerweile der Vollendung entgegen. Das aus Sicht des Kulturbeamten verträgliche Niveau an kulturellen Einrichtungen scheint alsbald erreicht.
Eine weltweit einmalige Dichte an Stadttheatern und Orchestern, ein Weltkulturerbe der besonderen Art, droht unterzugehen. Der Freistaat Thüringen verlangt von den Theatern und Orchestern, zehn Millionen Euro einzusparen. Auf den Gesamthaushalt bezogen ist das zwar eine verschwindend geringe Summe, für viele kleine Theater und Orchester bedeutet das jedoch das endgültige Aus. Im Freistaat Sachsen geht es weniger spektakulär, aber darum nicht weniger bedrohlich zu. Das hat mit anderen Finanzierungsmodalitäten zu tun als denen in Thüringen. Sachsen gibt etwa ein Drittel des Kulturetats für die drei Staatstheater – Semperoper, Staatsschauspiel Dresden und Landesbühnen Sachsen – aus. Das sind rund 60 Millionen Euro. Die übrigen Theater und Orchester erhalten ihre Finanzmittel über die Kulturräume zugewiesen, die ihrerseits einen Zuschuß vom Land erhalten. Das sind jährlich 86,7 Millionen Euro. Dennoch leiden die Theater- und Orchester in Sachsen unter einer strukturellen Unterfinanzierung. Ein entscheidender Grund für die notorische Finanznot der Theater und Orchester sind die klammen Kassen der öffentlichen Hand. Im Falle der landesgeführten Häuser deckt der Landeszuschuß die steigenden Kosten nicht ab, und im Falle der von den Kulturräumen betriebenen Einrichtungen reichen die Mittel ebenso wenig aus. Daher sind Haustarife inzwischen die Regel. Die Belegschaft verzichtet auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld und nimmt zum Teil beträchtliche Gehaltseinbußen in Kauf, um den Spielbetrieb aufrechtzuerhalten. Und obwohl gespart wird, wo es nur geht, kommen die Häuser aus den roten Zahlen nicht heraus.
Unverdrossen verlangt die sächsische Staatsregierung von den Theatern und Orchestern mehr betriebswirtschaftliches Denken. Das bedeutet, die Einnahmen haben zu steigen, egal wie. Nötigenfalls müssen Einrichtungen eben fusionieren. Der Kulturraum Mittelsachsen erwägt die Übernahme der Landesbühnen Sachsen, einem Reisetheater, durch das Theater Freiberg/Döbeln. Die Übernahme würde der Freistaat durch einen Zuschuß versüßen. Zugleich aber ermöglichte sie der Staatsregierung den Rückzug aus der Finanzierung eines bislang vom Land unterhaltenen Theaters.
Begründet wird das mit der Strategie der Landesregierung, die Kulturausgaben zu kommunalisieren. Kultur, heißt es zur Begründung, müsse bürgernah sein und deshalb staatsfern bleiben. Ein hehres Anliegen, das aber unweigerlich die Schließung von Theatern und Orchestern nach sich zöge. Denn schließlich sind die Kommunen in aller Regel hoch verschuldet. Eine Kommunalisierung der Kulturausgaben liefe im Endeffekt auf dasselbe hinaus wie die drastischen Einschnitte in den Kulturetat, die das Land Thüringen plant. Übrigblieben einzig noch die Theater und Orchester in den urbanen Kulturräumen, in den drei Großstädten.
Nun könnte dem entgegnet werden, daß die Staatsregierung ihren finanziellen Verpflichtungen gegenüber den Kulturräumen nachkommt und für die dortigen Theater und Orchester nicht zuständig sei. Das Argument entspricht ganz der Rückzugsstrategie der Landespolitik aus der Verantwortung für die Kultur im Freistaat.
Der Ministerpräsident ist bekanntlich kein Freund staatlicher Kulturverantwortung. Sein Ziel, den Staat so weit wie möglich aus der Verantwortung für die Kultur zu entlassen, verfolgt er beharrlich weiter. Finanziell potente Sponsoren und private Stiftungen sowie ein verstärktes ehrenamtliches Engagement der Bürger sollen die staatliche Kulturpolitik ersetzen. Kulturförderun g im Sinne einer Investition könne es für Kinder und Jugendliche geben. Für Erwachsenen hingegen nicht. Wer hier Kultur wolle, soll sie selbst bezahlen. Alles andere wäre ein unzulässiger Eingriff des Staates in das demokratische Selbstbestimmungsrecht der Bürger. Deshalb favorisiert der Ministerpräsident »eine Theaterkonzentration auf die drei Großstädte«. Der zu dem Zweck in der vergangenen Legislaturperiode vom Finanzministerium vorgelegte Entwurf für ein zweites Kulturraumgesetz stieß seinerzeit auf einhellige Ablehnung. Aus den Augen verloren hat die von Georg Milbradt geführte Staatsregierung im Freistaat das Ziel dennoch nicht.