von Klaus Hart, São Paulo
Nie zuvor in der Geschichte hat das Schwellenland Brasilien, die elfte Wirtschaftsnation der Erde, so viel exportiert wie in jüngster Zeit – entsprechend stolz und zuversichtlich gibt sich Staatschef Luis Inacio Lula da Silva: »In nur drei Jahren hat die jetzige Regierung die Ausfuhren praktisch verdoppelt.« Die Ausfuhren beliefen sich 2005 nach amtlichen Angaben auf umgerechnet 118 Milliarden Dollar, der Außenhandelsüberschuß kletterte erstmals auf rund 45 Milliarden Dollar. Gegenüber 2004 steigerte Brasilien seine Exporte um erstaunliche 23,1 Prozent – während die Zuwachsrate im Weltdurchschnitt bei 14 Prozent lag. Ein genauerer Blick auf die Exportstatistik fördert indessen zutage, was Brasilia nicht zufällig unerwähnt läßt. Denn Brasilien profitierte einerseits stark von höheren Weltmarktpreisen, andererseits von den Exportstrategien ausländischer Multi-Filialen.
Wie die nationale Außenhandelsvereinigung AEB konstatiert, kommen Brasiliens Exporte zu immerhin rund siebzig Prozent aus kapitalstarken multinationalen Unternehmen wie Ford, General Motors oder Nokia, Ericsson und Motorola. Und auch aus vielen deutschen Multis wie Volkswagen, DaimlerChrysler, Siemens, Voith, BASF oder Bayer. Kleine und mittlere nationale Firmen, die nur zu gerne exportieren würden, scheiterten dagegen häufig an den Hürden der ausufernden wirtschaftsfeindlichen Regierungsbürokratie, an staatlichem Mißmanagement. Mit anderen Worten: Unter Lula wird das Auslandskapital begünstigt, während nationale Firmen nur zu oft das Nachsehen haben. In Italien beispielsweise kommen etwa fünfzig Prozent der Exporte aus kleinen Unternehmen, deren Anteil liegt in Brasilien nur bei 2,4 Prozent.
Bevor sich die großen Automultis in Brasilien einkauften, hatte das Tropenland ein relativ gut ausgebautes Schienennetz, fuhren in den Großstädten zahlreiche Straßenbahnen und Trolleybusse. Wie Experten betonen, wurde der Bahnverkehr gezielt zerschlagen, damit die Multis mit LKW und Bussen Riesengewinne machen konnten. Jeder ausländische Tourist stellt erstaunt fest, daß zwischen den 430 Kilometer voneinander entfernten Millionenstädten Rio de Janeiro und São Paulo, den wichtigsten Wirtschaftszentren, nur enorme Busflotten verkehren, weil der viel effizientere und umweltschonendere Zugverkehr eingestellt worden ist. Zu den Resultaten dieser auch unter Lula beibehaltenen Verkehrspolitik zählt, daß brasilianische Exportprodukte vom Erzeuger bis zum Atlantikhafen durchschnittlich 39 Tage benötigen. In China sind es zwanzig, in den USA nur neun Tage. In Dänemark beispielsweise muß ein Exporteur nur drei Formulare auszufüllen und die Unterschriften zweier Instanzen einholen. In Brasilien hingegen sind sieben Formulare und acht Unterschriften notwendig. Verglichen mit Brasilien ist Deutschland bürokratiefrei. Bürokratische Vorgänge, die in Deutschland häufig nur zehn bis fünfzehn Minuten erfordern, ziehen sich in Brasilien nicht selten über Jahre hin.
In jüngster Zeit verlor der Euro gegenüber dem Real um rund vierzig Prozent an Wert – für etwa zweitausend kleine und mittlere brasilianische Unternehmen wurde das Exportieren schlagartig unrentabel – und könnten, wie die Außenhandelsvereinigung befürchtet, nun an Multis verkauft werden, die Gewinneinbußen viel länger verkraften. Beispiel Fox von VW: Die Real-Aufwertung führte dazu, daß der Kleinwagen statt erklecklichen Gewinns in Europa bis auf weiteres nur Verluste einfährt. Der Volkswagen-Konzern plant für die nächsten drei Jahre Massenentlassungen – Brasilien sei von ihnen aber nicht betroffen, hieß es.
Alaor Gomes von der Außenhandelsvereinigung Associacao de Comercio Exterior do Brasil über die Wirtschaftsmetropole São Paulo: »Der hohe Exportanteil der Multis ist normal, denn sie suchen heute billige Arbeitskräfte, günstige Standorte für ein globales Produkt. Sie nutzen ein bestimmtes Land als Exportbasis, um mit den dort weit billiger erzeugten Produkten international konkurrenzfähiger zu sein. Von Brasilien aus beliefern sie jene Länder, in denen die höchsten Gewinne möglich sind, vergrößern ihre Marktanteile, verbessern ihre Konkurrenzfähigkeit. Brasilien lockt derzeit als Schwellenland gerade wegen der niedrigen Lohnkosten sehr viel Auslandskapital an. Zudem sind Rohstoffe und Zulieferteile hier sehr billig. Auf viele Waren wird in Brasilien keine Ausfuhrsteuer erhoben; auch das begünstigt Exporte. Ich glaube, die Multis werden noch für lange Zeit die wichtigsten Exporteure Brasiliens bleiben und ihren Anteil sogar weiter steigern. Die Multis beteiligten sich auch stark an der Privatisierung von Staatsbetrieben. Beneidenswert, wieviele Fahrzeuge der VW-Konzern von hier aus in die ganze Welt liefert – doch auch die Automultis aus den USA oder Japan brachen 2005 sämtliche Ausfuhrrekorde.«
Entsprechend rekordhoch sind die Gewinnüberweisungen aus Brasilien an die Stammfirmen. 2004 waren es laut Zentralbank 7,33 Milliarden Dollar, 2005 schon 12,68 Milliarden Dollar. Das gleiche Schema ist in China anzutreffen; auch dort profitierten Multis am meisten von den stark gestiegenen Exporten.
Hauptempfänger der brasilianischen Exporte ist die Europäische Union. 2005 waren es 55 Prozent mehr als im Jahr davor. Die großen internationalen Handyhersteller steigerten die Ausfuhren aus ihrer sogenannten Exportplattform Brasilien gar um das Drei- bis Vierfache. Brasilien zählt zu den wichtigsten Agrarexporteuren der Welt, liegt bei Rindfleisch und Soja, Zucker und Bioalkohol an der Spitze. Doch laut Alaor Gomes werden auch solche Ausfuhren fast völlig durch multinationale Unternehmen, darunter Cargill und Bunge aus den USA, kontrolliert. »Hinderlich ist zudem die starke Aufwertung unserer Landeswährung Real, was künftig große Probleme schaffen kann. Wir fordern deshalb von der Regierung, daß sie ihre Währungspolitik ändert.« Gomes sagt voraus, daß Brasilien ein großer Produzent und Exporteur von Zellulose und Papier wird; die Umweltauswirkungen der Eukalyptusmonokulturen sind bekannt.
Warum in Deutschland produzieren, wenn die Lohnkosten in Brasilien bis zu neunzig Prozent niedriger liegen und damit viel höhere Gewinne möglich sind? Das sagen sich deutsche Konzerne bereits seit den achtziger Jahren und verlegen immer mehr Fertigungslinien in das Tropenland. Volkswagen do Brasil ist das größte Privatunternehmen ganz Lateinamerikas, schickt aus seinem hochmodernen Werk bei Rio de Janeiro auch immer mehr LKW und Busse in alle Welt. Der VW Golf für die USA und Kanada kommt schon seit Jahren aus Brasilien. Die DaimlerChrysler-Filiale verfährt genauso und liefert zudem an das Mannheimer Werk Motorblöcke und Pleuelstangen.
Generatoren für Wasserkraftwerke, Gußteile für Wasserturbinen wurden einst in Deutschland hergestellt. Längst vorbei. Viel kostengünstiger erledigt dies die brasilianische Filiale der Gruppe Voith-Siemens-Hydro. Die Gußteile kommen schon seit 1992 aus Brasilien. Von den Voith-Siemens-Werken für Wasserturbinen steht eins in China, das andere in Brasilien – in Deutschland wurde die Fertigung vor sechs Jahren gestoppt. Auch die Firma Stihl läßt bereits seit 1996 unter anderem Zylinder für Motorsägen und Trennschleifer nur noch in Brasilien herstellen, neunzig Prozent der Produktion geht in den Export, vor allem ins Stammhaus nach Deutschland. Haushaltsgeräte der Marken Siemens und Bosch, Reifen von Continental, Asphaltfräsen von Wirtgen, Bremsbeläge von TMD – die Liste jener deutschen Firmen, die zunehmend in Brasilien produzieren lassen, könnte man beliebig verlängern. Brasiliens Wirtschaftsanalysten bemerken, daß die Überweisung von Gewinnen und Dividenden an die Stammhäuser entsprechend in die Höhe schnellt. Auch große multinationale Konzerne wie Ford oder General Motors schlössen seit einiger Zeit in ihren Stammländern serienweise Fabriken, erweiterten indessen die Produktion in Brasilien.
Extrem teure Designermode für Deutschland und andere europäische Staaten wird ebenfalls zunehmend für Winziglöhne in Brasilien gefertigt, vor allem im Nordosten.
Von Ex-Gewerkschaftsführer Lula, der aus Brasiliens Syndikaten handzahme Organisationen machte, deren Chefs nur zu oft mit der Kapitalseite kungeln, ist schwerlich Kritik an diesen Entwicklungen zu erwarten. Lula wählte sich zudem ausgerechnet einen der berüchtigtsten Großunternehmer und Milliardäre, Josè Alencar, zum Vize. Francisco Whitaker, Mitgründer des Weltsozialforums und Menschenrechtsaktivist, beschrieb indessen im vorigen Jahr bei seinem Austritt aus Lulas Arbeiterpartei PT deren Verhältnis zu SPD und deutschen Multis: »Die PT-Spitze ging auch da ganz pragmatisch vor. Wir brauchen internationale Unterstützung – ohne die kommen wir nicht aus. Also gehen wir auf die Suche – wer öffnet uns die Türen mit besonders viel Sympathie, wo können wir möglichst viele Vorteile herausholen? Und so stießen die PT-Führer auf die SPD, die damalige rot-grüne Regierung, mit der ja auch das brasilianische Kapital wunderbare Beziehungen pflegte. Die deutschen Multis kommen wegen der Billigstlöhne nach Brasilien und entlassen dafür in Deutschland – die kapitalistischen Mechanismen sind furchtbar! Brasiliens Regierung stellt dem Auslandskapital keine Forderungen, macht ihm keinerlei Auflagen.«
Das ändert indessen nichts an der Tatsache, daß gemäß Umfragen Brasilianer am liebsten bei deutschen Multis arbeiten, weil die ihre Leute besser bezahlen und vor allem weit besser behandeln als einheimische Firmen mit ihren frühkapitalistischen Sklavenhaltermethoden. Streiks bei deutschen Multis in Brasilien finden in deutschen Medien gewöhnlich viel Aufmerksamkeit. Doch dabei wird übersehen, daß in deutschen Unternehmen Arbeitsniederlegungen möglich sind, während in brasilianischen Firmen nur zu oft sofortige Entlassung, brutale Gewalt – und im Hinterland sogar Ermordung von Gewerkschaftern, Streikenden drohen. Und Streiks deshalb gewöhnlich unterbleiben. Wer sich in brasilianischen Unternehmen als Gewerkschafter outet, hat ein schweres Los.
Der schweizerische UNO-Sonderberichterstatter Jean Ziegler reist regelmäßig nach Brasilien, kennt die Zustände recht genau. Und spricht nicht zufällig von einer Refeudalisierung der Erde: »Die neuen Kolonialherren, die multinationalen Konzerne – ich nenne sie Kosmokraten – eignen sich die Reichtümer der Welt an.« Die heutige kannibalische Weltordnung sei das Ende sämtlicher Werte der Aufklärung, das Ende der Grundwerte und der Menschenrechte.
Schlagwörter: Klaus Hart