Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 25. Dezember 2006, Heft 26

Veraffung des Menschen?

von Heerke Hummel

In der entstehenden Linkspartei scheint momentan Wunschdenken Raum zu greifen, beispielsweise in der Diskussion um ein arbeitsunabhängiges Grundeinkommen, auf das jedermann einen Anspruch haben soll. Niemand solle zur Arbeit gezwungen werden. Wäre das gleich der »große Sprung« in den Kommunismus, eine Utopie, von der auf einem Sechstel des Erdballs noch vor nicht einmal zwei Jahrzehnten als dem Reich der Freiheit geträumt wurde? Immerhin rief Gregor Gysi jüngst auf einer Konferenz seinen Zuhörern die Kassiererin bei Aldi ins Bewußtsein, die gewiß nicht aus lauter Lust in ihrer Koje sitze und doch froh sei, wenn sie es darf. Und er erinnerte an die Tatsache, daß die ganze Menschheit gezwungen ist zu arbeiten, wenn sie nicht verhungern will.
Genau hundertunddreißig Jahre ist es her, daß Friedrich Engels seine Schrift Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen publizierte. An sie mußte ich – die politische und ökonomische Zukunft ahnend – denken, als sich im Herbst 1989 ein Menschenstrom nach dem Westen Deutschlands bewegte und mit geschenktem Geld und Südfrüchten heimkehrte. Heute, mit sechzehnjähriger gesamtdeutscher Sozial- und Medienerfahrung, meine ich, es wäre an der Zeit, über den Anteil der Unterhaltung – in des Wortes vielfacher Bedeutung – an der Veraffung des Menschen zu schreiben.
Was gegenüber dem Tierreich die Zähmung mittels Fütterung und Peitsche war, das stellt sich innerhalb der menschlichen Gesellschaft als Korrumpierung dar – zum Zwecke der Herrschaft und des Machterhalts. Freilich war auf letzteren das Hauptaugenmerk auch der Führungseliten im Osten gerichtet, wenngleich mit viel bescheideneren Mitteln. Harry Nick, der dank früherer Funktion in dieser Frage gewiß nicht inkompetent ist, traf kürzlich die bemerkenswerte Feststellung, das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖS) – in der DDR der sechziger Jahren entwickelt – sei letzten Endes deshalb nicht eingeführt worden, weil es »der Machtzentrale ihre ökonomische Grundlage genommen« hätte.
Das ist plausibel, kann aber auch bedeuten, es wurde befürchtet, daß die DDR – hätte sie ihre Wirtschaft konsequent reformiert –, in den ökonomischen Grundzügen ungefähr dort angekommen wäre, wo sich die Alt-Bundesrepublik befand: bei einer hocheffizienten Organisationsstruktur der Wirtschaft und bei einer wirkungsvollen Struktur von Verantwortlichkeiten in der ökonomischen Entscheidungsfindung. Wo wäre dann aber der Unterschied gewesen zwischen »sozialer Marktwirtschaft« im Westen und »sozialistischer Marktwirtschaft« im Osten? Im Machtanspruch!
Der Machtanspruch der sich sozialistisch oder gar kommunistisch nennenden Parteien und vor allem ihrer Führungen ging zurück auf die Ansichten von Marx und Engels. Die beiden waren auf Grund ihrer Analyse des kapitalistischen Reproduktionsprozesses zu der Auffassung gelangt, Kapital reproduziere immer Kapital und kapitalistische Produktionsverhältnisse.
Und ihre logische Schlußfolgerung lautete: Wer diesen Kreis durchbrechen und diese Produktionsweise samt ihrer Gebrechen überwinden will, müsse sie gewaltsam im Zuge einer revolutionären Umwälzung und auf der Grundlage der errungenen politischen Macht durch »Vergesellschaftung der Produktionsmittel« verändern. Machterhalt galt daher als oberstes Prinzip jeder kommunistischen Parteiführung dort, wo sie einmal regierte. Es handelte sich immer um die Macht dieser Partei, also um eine zentralisierte Macht.
Hinzu kam, daß Karl Marx und Friedrich Engels – bedingt durch den damals im Vergleich mit heute relativ geringen Grad der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und den Entwicklungsstand der Produktivkräfte – sich den Sozialismus nur als eine Gesellschaft vorstellen konnten, »die ihre Produktivkräfte nach einem einzigen großen Plan harmonisch ineinandergreifen läßt« – so Engels im Antidühring. Auch von daher war Zentralismus geboten.
Marx analysierte die Produktionsweise seiner Zeit als die zeitgemäße und gesellschaftsbestimmende Form von Warenproduktion. Und mit der ganz allgemeinen Analyse der Ware und ihres einfachen Austausches begann er im Kapital, wobei er zeigte, daß auch das Geld als »allgemeines Äquivalent« eine Ware in der Einheit von Wert und Gebrauchswert ist. Marx analysierte die Wirklichkeit seiner Zeit. Und wenn auch Banknoten in Vertretung von Gold schon in Umlauf waren, so war doch die Entwicklung des Papiergeldes in der ganzen Konsequenz für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß und dessen Steuerung damals wohl nicht absehbar.
Zwar wurde diesem Geld fortan bis 1971 ein Goldstandard zu Grunde gelegt, aber der Austausch von Papier gegen Gold fand immer seltener wirklich statt, um dann 1971 vollständig abgeschafft zu werden. (Ein Geniestreich, in: Das Blättchen, Heft 19-21). Das heißt, die Probe aufs Exempel einer Wertäquivalenz fand immer seltener und schließlich gar nicht mehr statt. Je mehr der allgemeine Warenaustausch durch Papiergeld vermittelt wurde, um so weniger war das Geld ein Faustpfand für die Möglichkeit, eine Ware von gleichem Wert kaufen zu können.
An dessen Stelle trat mehr und mehr das allgemeine Vertrauen der Produzenten (Verkäufer), dank »richtiger« staatlicher Wirtschafts- und Finanzpolitik mit dem eingenommenen, an sich selbst wertlosen (Papier-)Geld ein wertäquivalentes Produkt erwerben zu können. In Inflations- und Krisenzeiten eine oft sehr trügerische Hoffnung. Heute, seit der Kündigung des Abkommens von Bretton Woods durch die USA im Jahre 1971, basiert aller Handel ausschließlich auf diesem allgemeinen Vertrauen und der Hoffnung, der Staat werde im Namen der Gesellschaft schon irgendwie für Sicherheit sorgen, aller neoliberalen Ablehnung staatlicher Einflußnahmen auf die Wirtschaft zum Trotz.
Das Geld ist so aus einer Ware, einem tatsächlichen allgemeinen Äquivalent zu einem reinen Arbeitszertifikat geworden. Es postuliert einen Anspruch auf gesellschaftliches Produkt und konstatiert damit einen Anteil an den Produktionsfonds der Gesellschaft, die so vergesellschaftet sind. Und es macht seinen Herausgeber, also den Staat, verantwortlich für die Sicherheit dieses Zusammenhangs und das Funktionieren des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses – nicht als utopische Zukunftsforderung, sondern als heutige ökonomische Realität! Es ist seinem ökonomischen Wesen nach das gleiche, was es auch in der DDR und anderen Ländern des Realsozialismus war. Und dies macht die ökonomische Verwandtschaft von »Kapitalismus« und »Sozialismus« im 20. Jahrhundert aus. Beide Systeme hatten die Warenproduktion überwunden – auf verschiedenen Wegen. Diesen unterschiedlichen Wegen entsprach ein unterschiedliches Gewicht zur Machtfrage in West und Ost.
Fragt man vor diesem Hintergrund nach den Aufgaben und Perspektiven linker Wirtschaftspolitik im 21. Jahrhundert, so ist vor allem festzuhalten: Notwendig ist eine Teilnahme an der Machtausübung in der Regierung, im Parlament und außerhalb desselben – auch Opposition bedeutet Druck- und Machtausübung – zur Durchsetzung sozialer und ökologischer Ziele »nach dem rationellen wie demokratischen Grundprinzip des NÖS«, um noch einmal Nick zu zitieren.
Dazu bedarf es keiner Revolution und keiner Enteignung, keiner »Abschaffung« von Geld und Ware-Wert-Beziehungen – wie im linken Spektrum oftmals noch erwartet wird –, denn das alles hat sich hinter dem Rücken der Gesellschaft auch in der bürgerlichen Welt bereits vollzogen. Vonnöten wäre »nur« noch die Durchsetzung eines neuen ökonomischen Denkansatzes, der aufräumt mit der allgemeinen Illusion vom Reichtum in Gestalt von Geld und Finanzwerten aller Art.