Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 11. Dezember 2006, Heft 25

Nationalhymnen, Enten …

von Jürgen Werner

In Deutschland darf man aus bekannten Gründen nur die dritte Strophe der Nationalhymne singen. Mancher möchte es ändern; das geht nicht, wie man weiß. Immer wieder wird vorgeschlagen, zu der dritten Strophe des Deutschlandliedes einfach die erste Strophe der DDR-Hymne hinzuzunehmen. Das ist jedoch schon aus technischen Gründen unmöglich: Zwar kann man die ersten Zeilen von Auferstanden aus Ruinen auf die Melodie von Haydn singen und die ersten Zeilen von Einigkeit und Recht und Freiheit auf die Melodie von Eisler, aber die DDR-Hymne ist eine Zeile länger …
In der DDR wurde lange Jahre die Hymne überhaupt nicht gesungen. Deutschland einig Vaterland paßte nicht zur Abgrenzungspolitik der DDR-Obrigkeit. Diejenigen, die diesen Text 1989/90 ständig skandierten, wußten wohl gar nicht, daß er von dem Kommunisten Johannes R. Becher stammte. Vermutlich war die DDR der einzige Staat der Welt, der den Wortlaut der eigenen Nationalhymne verleugnete. Auf jeden Fall war er der einzige Staat, in dem dieser Zustand lexikographisch fixiert war. Hieß es in der ersten DDR-amtlichen Enzyklopädie Meyers Neues Lexikon, Band 6 (1963) noch: »Nationalhymne. Lied, das bei feierlichen Anlässen… gesungen wird«, so war im Großen Fremdwörterbuch (Leipzig 1977) zu lesen: »Gesang, der… bei feierlichen Anlässen gesungen oder gespielt wird«, und in der zweiten DDR-Enzyklopädie BI-Universallexikon, Band 4 (1987): »Bei feierlichen … Anlässen … gespielt oder gemeinsam gesungen« – man beachte den Wechsel von »gesungen« zu »gesungen oder gespielt« beziehungsweise »gespielt oder gesungen« sowie die Formulierungen »Lied … gesungen, Gesang … gespielt«! Gewiß werden auf der ganzen Welt Nationalhymnen bei manchen Anlässen nur gespielt, aber in der DDR wurde die Hymne 1987 schon längst nicht mehr gesungen.
Auch sonst ist der Vergleich unterschiedlicher DDR-Nachschlagewerke höchst lehrreich. In dem ausführlichen Artikel Zensur in Meyers Neuem Lexikon, Band 8 (1964) war festgehalten, daß es in »vielen kapitalistischen Ländern« Nachzensur gebe; von der DDR war nicht eigens die Rede. Im Nachfolgewerk BI-Universallexikon, Band 5 (1988) wurde dagegen ausdrücklich angemerkt: »In der DDR gibt es keine Zensur der Presse, des Rundfunks, des Fernsehens usw.« Zu einigen eklatanten Fällen von Zensur/Selbstzensur unter anderem anläßlich einer Wortneubildung Erwin Strittmatters siehe J. Werner: Enten, die in die falsche Richtung schauten, und andere kulturpolitische Probleme, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 157, Leipzig 1990, S. 179 ff.
In Meyers Neuem Lexikon, Band 2 (1962) war Friedrich II. von Preußen, einer in der DDR lange negativ bewerteten Persönlichkeit, ein Artikel gewidmet, in dem das Epitheton »der Große« gar nicht erwähnt war. Dagegen begann der betreffende Artikel im BI-Universallexikon, Band 2 (1986) mit »Friedrich II., der Große«. Mehr dazu bei J. Werner, Friedrich II., »der Große«?, in: Sächsische Akademie der Wissenschaften, Arbeitsblätter 12, 1999, 32-43; Kurzfassung: Sinn und Form 54, 2002, S. 707 ff.
Ein anderer aufschlußreicher Fall: Meyers Neues Lexikon, Band 2 (1962) hatte einen Artikel »Eisenhüttenkombinat J. W. Stalin« über ein »1951 in Stalinstadt aufgebautes Kombinat«. Nun wollte man in Band 7 (1964: Ricardo-Tema) Näheres über Stalinstadt erfahren. Aber einen solchen Artikel gab es nicht. Des Rätsels Lösung: Die parallel zu dem Kombinat aufgebaute Wohnstadt wurde 1953 »Stalinstadt« genannt, aber im Zuge der – halbherzigen – Entstalinisierung in der DDR 1961 in »Eisenhüttenstadt« umbenannt. Daß die Stadt erst seit 1961 so hieß, durfte in Meyers Neuem Lexikon nicht schon 1964, sondern erst 1969 im Ergänzungsband (Band 9) mitgeteilt werden. Es geschah dort eleganterweise ohne Hinweis darauf, daß der Ort zwischendurch Stalinstadt geheißen hatte: Eisenhüttenstadt war, mehr erfuhr man nicht, »durch Vereinigung der sozialistischen Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats Ost und der Stadt Fürstenberg« entstanden.
Auch im BI-Universallexikon existierte lediglich in Band 2 (1986) ein Artikel Eisenhüttenstadt, ohne Bezug auf den früheren Namen Stalinstadt (»Eingemeindung von Fürstenberg«), und in Band 5 (1988) gab es keinen Artikel Stalinstadt, auch keine Verweisung auf ein anderes Stichwort, wie sie in sechs Fällen zu den bei der Entstalinisierung in der Sowjetunion umbenannten Städten erfolgte: »Stalingrad s. Wolgograd« und so weiter; der einzige die DDR betreffende Fall wurde noch 1988 verschwiegen!
Im BI-Universallexikon, Band 2 (1986) erfuhr man nur, daß das »Eisenhüttenkombinat Ost« (nach einem SED-Politbüro-Mitglied) »Bandstahlkombinat Hermann Matern« hieß. Der durchweg vorzügliche Wissensspeicher Brockhaus. Die Enzyklopädie …, 20., überarb. und aktual. Aufl. Bd. 20 (1998) teilt übrigens unter »Stalinstadt« auch nur mit, daß diese Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats Ost 1961 »nach Eingemeindung der Stadt Fürstenberg… in Eisenhüttenstadt umbenannt« wurde. In Bd. 6 (1997) wurde immerhin gesagt, daß diese Stadt 1953-61 »Stalinstadt« hieß und erst nach Eingemeindung von Fürstenberg in »Eisenhüttenstadt« umbenannt wurde. Es lag also ein Akt der Entstalinisierung vor, eines Vorgangs, zu dem es einen Brockhaus-Artikel gibt; dort ist aber nicht auf die Stadtumbenennung eingegangen. Gar nicht so einfach, die DDR-Hinterlassenschaft auch nur linguistisch zu bewältigen …