von Klaus Hart, São Paulo
Aus Amazonien wurde ein unerhörter Fall vermeldet, den auch die deutschen Medien teilweise aufgegriffen haben. Viertausend Kilometer von Rio de Janeiro und São Paulo entfernt hatte ein Indianermädchen im Alter von nur neun Jahren ein Kind geboren. Es war offensichtlich vergewaltigt worden.
Die Polizei fahndete nach dem Täter, auch die staatliche Indianerschutzbehörde FUNAI und Amazoniens wichtigste Indianerorganisation Coiab schalteten sich ein. Erdölarbeiter hatten das Mädchen stark geschwächt und abgemagert, mit hohem Fieber, Malaria und einer Lungenentzündung angetroffen und sofort in ein Hospital gefahren.
Die Medizinerin Ana Lucia Salazar von der Coiab sagte auf Anfrage, das Mädchen sei mit dem Baby aus der Klinik ins Dorf der Apurina-Indios zurückgekehrt, die Anzeige gegen den mutmaßlichen Täter habe man zurückgezogen. »Denn aus der Sicht der Indianer, gemäß ihren Alltagssitten und Gebräuchen wurde hier kein Verbrechen begangen, obwohl das brasilianische Strafrecht den Tatbestand eindeutig als Vergewaltigung definiert. Die Indios wollen darüber nicht reden – aber jeder im Dorf weiß, wer der Vater des Babys ist. Auch bei anderen Stämmen, wie den Yanomami läuft es so – ab der ersten Menstruation werden die Mädchen von den Männern als tauglich für Sex angesehen und dafür ausgewählt. Gewöhnlich werden die Indianerinnen mit zehn, zwölf Jahren schwanger und leben dann mit jemandem zusammen.«
In der für die gesundheitliche Betreuung der Indianer zuständigen Behörde FUNASA wurde ebenfalls betont, im Falle der neunjährigen Indianerin liege ein Sexualverbrechen vor, der Täter müsse gefaßt werden. Brasiliens Kinderschutzstatut habe auch für die Indianer des Landes zu gelten.
Edgar Rodrigues vom Stamme der Barè hingegen, Chefadministrator der staatlichen Indianerschutzbehörde FUNAI im Teilstaate Amazonas, plädiert dafür, Indiogebräuche zu achten. Geschlechtsverkehr mit Kindern untern zehn Jahren sei in der Kultur der Apurina-Indios eine normale Sache. »Das gehört zu deren Naturrecht, ist Teil ihrer sexuellen Freizügigkeit. Doch in der Welt der Weißen, in der brasilianischen Gesellschaft gibt es wegen des Mädchens eben einen öffentlichen Aufschrei, denken alle, das war Vergewaltigung. Sex mit acht, neun Jahren ist sicherlich sehr früh, für Weiße abnorm und strafbar, aber in der Apurina-Kultur eben erlaubt.«
Rodrigues räumt zwar ein, daß es sich laut Kinderstatut im Falle des Mädchens um sexuellen Mißbrauch handele, doch das Statut sei von den Weißen geschaffen, ohne die Indianer anzuhören und deren Kultur sowie Ethnizität zu respektieren. »Ich finde, es sollte stets Ausnahmegesetze für Indianer, für Indiokinder geben. Man müßte all dies einmal gründlich diskutieren.«
Bei den Indios wird auch die systematische Tötung von Kindern im Falle von Geburtsfehlern und Behinderungen praktiziert.
Zwar steht in Deutschland der nordbrasilianische Yanomami-Stamm immer mal wieder im Mittelpunkt des Medieninteresses, doch Hinweise auf systematische Tötung behinderter Kinder fehlen meist. Ana Lucia Salazar bestätigt, daß der Infantizid bei den Yanomami praktiziert wird. »Für mich ist die Kindstötung nur schwierig zu verstehen, aber für die Yanomami ist es ein Akt der Liebe zum Kind. Die Indios sehen es so: Wenn ein Kind mit Geburtsfehlern, mit Behinderungen zur Welt kommt, wird es leiden, auch später als Erwachsener, wird es diskriminiert, wird es eben Gesundheitsprobleme haben.«
FUNAI-Chefadministrator Edgar Rodrigues nennt den Kindermord aus Indiosicht etwas Natürliches: »Ein Kind mit Behinderungen, mit Mängeln würde aus deren Sicht, gemäß deren Kosmologie nicht für die Arbeit hier auf der Erde nützen. Deshalb gibt es den Infantizid. Denn ein solches Kind hätte nicht alle Potenzen für den Dienst an der Gemeinschaft. Und damit dieser Mensch eben nicht das ganze Leben leidet, praktizieren sie frühe Euthanasie. Sie ist nicht nur bei den Yanomami, sondern auch bei anderen Stämmen Amazoniens, selbst bei den Apurina, dem Stamme jenes neunjährigen Mädchens, üblich.« Die Mütter verscharren Kinder mit Behinderungen, aber auch solche, die Resultat von Ehebruch, Inzest oder sexueller Gewalt sind, sofort nach der Geburt. Zudem gibt es Stämme, die Zwillinge töten. Nach indianischem Glauben sei eines der Kinder gut, das andere böse. Da man nicht wisse, welches das gute sei, opfere man beide.
Brasilianische Rechtsexperten wie der Richter Oswaldo Palotti aus São Paulo betrachten die Tötungen an Indianerkindern als Verbrechen. »Bei präziser Gesetzesauslegung kann eine Indianerin, die ihr Kind nach der Geburt tötet, wegen Mordes verurteilt werden – und nicht wegen Infantizid. Denn das brasilianische Strafrecht definiert als Infantizid eine Tat, die aus einer starken psychischen Erschütterung der Mutter resultiert. Wenn die Tötung indessen aus Fragen der Ehre, der Armut oder aus kulturellen Gründen erfolgte, die Mutter indessen psychisch gesund ist, handelt es sich klar um Mord. Die Strafe beträgt zwischen sechs und zwanzig Jahren Gefängnis. Beim Infantizid ist sie weit geringer, liegt zwischen zwei und sechs Jahren. In einigen Gemeinschaften Amazoniens kann der Indianer derart außerhalb unserer Gesellschaft stehen, daß das Gesetz ihm keine kriminelle Absicht unterstellt. Aber das gilt nicht für eine Indianerin, die etwa in Ubatuba lebt, Hering-T-Shirts und Speedo-Shorts trägt, an der Straße Bogenpfeile verkauft. Sie ist unseren gesellschaftlichen Regeln angepaßt – und dann handelt es sich ohne Zweifel um Mord.«
Ana Lucia Salazar und Edgar Rodrigues konstatieren einen enormen Männerüberschuß bei den Apurina. In der Siedlung des Mädchens beispielsweise gebe es 23 Männer, doch nur drei weibliche Wesen, die Neunjährige inbegriffen. Eine Frau war verheiratet, die andere bereits sehr alt – nur das Kind war sozusagen noch ledig. Bekannt ist, daß bei vielen Stämmen die Männer den größten und wertvollsten Teil der Nahrung beanspruchen und den Frauen nur den armseligen Rest übriglassen. Sind die Indiofrauen deshalb anfälliger für Krankheiten, liegt deshalb deren Todesrate höher? Edgar Rodrigues: »Ja, das ist die Wahrheit, so ist es.«
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