Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 11. Dezember 2006, Heft 25

Das erfundene Paradies

von Klaus Hart, São Paulo

Vor 65 Jahren veröffentlichte Stefan Zweig sein Buch Brasilien – ein Land der Zukunft. Bis heute ist es ein Weltbestseller, ein Klassiker der Brasilienliteratur, der auch bei Deutschen aller Generationen nach wie vor Interesse und sogar Begeisterung für das Tropenland weckt. Wer Brasiliens gravierende Menschenrechtsprobleme, seinen Rassismus und die fortexistierende Sklavenhaltermentalität oder seine keineswegs neuen Sozialkontraste indessen genauer kennt, fragt sich bei der Lektüre des Meisterwerks, ob Zweig nicht gelegentlich irrte, idealisierte, romantisierte, übertrieb oder gar opportunistisch mit historischen Wahrheiten umsprang, sich also realitätsfremd ein Tropenparadies zurechtschrieb. Der brasilianische Zweig-Biograph Alberto Dines aus São Paulo sieht das so (Alberto Dines: Tod im Paradies, Edition Büchergilde Frankfurt/ Main 2006, 29,90 Euro) und spart just nicht mit Kritik.
Der Journalist und Autor zählt zu den bekannten jüdischen Persönlichkeiten Brasiliens und hat als Junge Stefan Zweig in Rio de Janeiro noch persönlich kennengelernt. Wer heute dessen Werk Brasilien – ein Land der Zukunft lesen und verstehen wolle, so Dines, müsse stets die Persönlichkeit, das Charakterprofil des Dichters sowie den historischen Kontext im Blick haben. Dies betreffe Zweigs Lob für Brasiliens Rassenharmonie ebenso wie seine Beschönigung des Lebens in den Slums. Neue Studien aus Brasilien, aber auch der Vereinten Nationen beschreiben das enorme Ausmaß an Rassismus und Diskriminierung. »Just der brasilianische Staat«, so 2006 Lucia Xavier von der NGO Criola in Rio de Janeiro, »der den Mythos von der Rassendemokratie konstruierte, pflegt den institutionalisierten Rassismus.«
War er während Stefan Zweigs Aufenthalt schwächer als heute? »Damals war all das noch viel grauenhafter«, konstatiert Alberto Dines. Von einer Lösung der Rassenfrage kann weder für damals noch für heute die Rede sein. »Stefan Zweig war kein Sozialwissenschaftler, kein Anthropologe, kein Wirtschaftsexperte. Und er sprach auch nicht Portugiesisch.« Deshalb kam er wohl zu der irrigen Annahme, in Brasilien fehlten ein abfälliges, rassistisches Vokabular, herabsetzende Worte über Negros. »Es ist unbestreitbar, daß man viele Jahre braucht, um in das Leben Brasiliens wirklich einzutauchen – und Stefan Zweig sagt selbst, er sei nur kurze Zeit hier gewesen, habe nur wenige Orte besucht. Er war auch kein politisierter Mensch, er täuschte, irrte sich, auch in politischen Fragen Brasiliens. Ich denke, er hat die Augen vor vielem verschlossen, ich bin da sehr kritisch.«
So behauptet Zweig realitätswidrig, in Brasilien habe man noch nie von Brutalität gegenüber Tieren, gar von Hahnenkämpfen gehört, obwohl diese gerade damals in Brasilien außerordentlich beliebt waren. Schwer vorstellbar, daß Zweig nichts davon mitbekommen haben soll. Bei den von Anbeginn der Kolonisierung bis heute üblichen Brandrodungen starben und sterben zudem ungezählte Tiere auf grausamste Art – und jedem Brasilianer ist das natürlich bekannt. Angesichts des heute wie damals extrem sozialdarwinistischen Alltags von Brasilien erscheint Zweigs Beschreibung der hiesigen Landesmentalität teilweise wie ein schlechter Witz.
Alberto Dines erinnert daran, daß damals, 1941, in Brasilien der Diktator Getulio Vargas an der Macht war, es eine faschistische Partei mit 600000 Mitgliedern gab und die Politik sowie die öffentliche Meinung von aggressivem Antisemitismus geprägt waren. Ein Vargas-Dekret aus der Zeit der Hitlerdiktatur verbot, europäischen Juden, die nach Brasilien flüchten wollten, ein Einreisevisum auszustellen. Ungezählte endeten deshalb in den KZ. 1936 hatte der als antisemitisch verschriene Vargas taktisch geschickt Stefan Zweig empfangen – genau zwei Tage später lieferte er die Jüdin Olga Benario an Hitlerdeutschland aus. In Bernburg wurde sie vergast.
Damals war der deutschstämmige Filinto Müller der gefürchtete Chef der politischen Polizei, er hielt mit seinen Leuten enge Kontakte zur Gestapo, ließ von ihr in Berlin seine Nachwuchskader ausbilden. Alberto Dines konstatiert: »Ein Visum war damals eine kostbare Sache für jeden Juden, der aus Europa flüchten wollte. Und Stefan Zweig machte eben ein Negocio, ein Geschäft mit der Vargas-Regierung – im Tausch gegen ein Dauervisum schrieb er ein Buch zugunsten Brasiliens und erhielt das begehrte Dokument mit unglaublicher Leichtigkeit.«
Jorge Amado nennt Brasilien – ein Land der Zukunft ein Auftragswerk. Zweig, so heißt es, habe enge Kontakte zu Vargas unterhalten; dieser wird stets positiv erwähnt. Manche Aussagen von Zweig wirken wie pure Vargas-PR: »Wer das Brasilien von heute erlebt, hat einen Blick in die Zukunft getan.« Oder: »Wer Brasilien wirklich zu erleben weiß, der hat Schönheit genug für sein halbes Leben gesehen.« Bis heute werden solche Zweig-Sprüche gerne von der Reisebürowerbung übernommen. Das Vargas-Regime machte im Gegenzug offen Propaganda für das Buch. Lourival Fontes, rechte Hand von Vargas und sein Propagandachef, charakterisierte das Werk als Dienst an der brasilianischen Nation.
Als Brasilien – ein Land der Zukunft herauskam, wurde es von der Presse wegen verschiedenster Ungereimtheiten dennoch arg verrissen; aber Hinweise auf politische Aspekte, gar auf die unterlassene Kritik am Antisemitismus, fehlten durchweg. Denn wer dies gewagt hätte, so Alberto Dines, wäre Gefahr gelaufen, verhaftet zu werden. Zweig antwortete auf die Vorwürfe in einer wenig gelesenen Regierungzeitung.
Im Brasilienbuch brilliert Stefan Zweig mit anschaulichen Beschreibungen der nationalen Industrie, der enormen Bodenschätze, der Landwirtschaft. Nichts davon stammt jedoch von ihm, alles hat er von dem Wirtschaftsexperten Roberto Simonsen übernommen, wie Alberto Dines betont.
Stefan Zweig hätte auch den Horror der brasilianischen Sklaverei schildern können. Nichts davon. Statt dessen betonte er, in keinem anderen Land seien die Sklaven so relativ humanitär behandelt worden, und beschrieb die Schwarzen als fröhlich und glücklich. Alberto Dines: »Nur ein einziges Mal war er in einem Slum und idealisierte daraufhin das einfache Leben der Leute dort. Zweig täuschte sich – aber das entsprach ja seinem idealisierenden, romantisierenden Naturell. Er erfand das Paradies. Sicherlich hatte er dafür einige konkrete Elemente, denn es gab gute Dinge in Brasilien. Doch jenes Paradies, das er da erdichtete, hat seinen Selbstmord nicht verhindert.«