Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 11. Dezember 2006, Heft 25

Brutal frontal

von Ove Lieh

Jeder dritte Zehntkläßler lernt nichts mehr dazu, hieß es bei der Auswertung einer Pisa-Nachfolgeuntersuchung. Nun ja, könnte man sagen, ein Drittel Doofe ist immer noch weniger als befürchtet. Aber die Sache ist ernst und die Ursache auch. Die Lehrmethoden sind‘s. Sie sind veraltet. Vielleicht sind sogar sehr veraltete Lehrmethoden dabei, die nicht einmal die Lehrer der heutigen Lehrer aus der Schulzeit ihrer Lehrer kennen. Läßt man etwa die Kinder immer noch das Einmaleins auswendig lernen?! Oder schlägt man sie gar!? Womöglich auf gepiercte Stellen!? Ach, so alt sind die Methoden nun auch wieder nicht. Es gibt in der Schule angeblich nur Frontalunterricht, die Blitzkriegsstrategie der Wissensvermittlung und Stillbeschäftigung, die mit Stillen schon was zu tun hat, aber eben nicht bedeutet, dem wißbegierigen Nachwuchs die Brüste der Minerva zur Stärkung ihrer intellektuellen Kräfte zu reichen, sondern vor allem dem Lehrer die Gelegenheit gibt, sich mit irgendwas Stillem zu beschäftigen, so still ist es in der Klasse. Denken kommt da nicht vor und macht ohnehin nur bei Politikern Geräusche.
Da sitzen sie nun, die lieben und artigen Kinder, die noch am Morgen voller Wissensdurst und Lerngier in die Schule trabten, und nun treiben ihnen die Lehrer den Lerneifer mit aller Gewalt, die in veralteten Lehrmethoden wohnt, wieder aus. Sie würden so gern etwas lernen, aber keiner bringt ihnen etwas bei, jedenfalls nicht mit den Methoden, die sie sich wünschen. Da können sie noch so diszipliniert, nett und höflich sein, konzentriert arbeiten, sorgfältig vorbereitete Fragen zum Stoff der übernächsten Stunde stellen, eindringlich neue Lehrmethoden fordern, diese Lehrer reagieren gar nicht darauf. Die machen einfach ihr altes Ding weiter. Leider kommt diese eifrige Bemühen der Schüler in den Pisa-Studien nicht so zum Vorschein. Danach hat man ja nicht gefragt! Besonders dramatisch ist die Situation für Schüler aus Einwandererfamilien, die bekanntermaßen aus ihren Heimatländern hohe pädagogische Standards gewohnt sind. Unlängst besuchte sogar der Papst die Türkei unter dem Vorwand, da ein paar Sachen unter Gläubigen zu klären, in Wirklichkeit aber, um von den anatolischen Pestalozzis neueste Lehrmethoden für seine Priesterseminare abzukupfern. Oder Afrika. Dauernd wird von Schulneubauten in dieser Region berichtet. Dort lernen Kinder Dinge mit Lehrmethoden, von denen die hiesigen nur träumen können. Die dortigen träumen häufig auch davon, allerdings meist in Alpträumen.
Ausländische Schüler sind es gewohnt, auch in der Pause auf dem Hof noch mit dem aufsichtführenden Lehrer Fachgespräche zu führen. Wenn sich das wegen der veralteten Lehrmethoden des Kollegen als unmöglich erweist, kann einem schon mal das Messer in der Tasche aufgehen. In extremen Fällen versuchen Schüler dann, das Lernklima an der Schule mit Waffengewalt zu ändern. Aber das hilft nichts. Es ändert sich nichts. Da müssen wir uns nicht wundern, wenn der Hauptschüler, der unbedingt aus seinem Milieu herauswill, aber an den veralteten Lehrmethoden der Scheißpauker, wie er sie respektvoll nennt, scheitert, an Suizid denkt. Denn wenn er schon Unterschicht sein soll, dann auf dem Friedhof.
Das ist die Tragödie unseres Landes, daß in jedem Bereich immer genau die Leute arbeiten, die von der jeweiligen Sache nichts verstehen: Fußballtrainer haben keine Ahnung vom Fußball, Schiedsrichter keine von den Regeln, Politiker keine von Politik (dafür aber von allem anderen!) und Lehrer eben keine von Pädagogik. Dabei wimmelt es »draußen« nur so von Fachleuten.
Die Einzigen, die genau wissen was sie tun, sind die Leute, die sich an solchen Strohfeuern wie der Aufregung über Pisa die Hände wärmen.

PS: Wenn Sie sich über veraltete Lehrmethoden informieren wollen, schauen Sie doch mal in alte Pädagogikbücher, sagen wir mal, so zwanzig Jahre alt, vielleicht Verlag Volk und Wissen. Sie werden staunen!