von Thomas Hofmann
Wäre es nicht frivol, müßte man sagen, Ort und Zeit waren gut gewählt: Dort, wo Luther vor fünfhundert Jahren ins Kloster eintrat, und am diesjährigen Reformationstag zündete sich der 73jährige Pfarrer Roland Weisselberg auf dem Gelände des Augustinerklosters in Erfurt mit Benzin an. Zuvor hatte er noch versucht, in den gerade laufenden Gottesdienst hineinzukommen. Robert Leicht fragt in der Zeit ahnungsvoll, was wohl hätte passieren können, wenn die üblicherweise offene Tür an diesem Tag nicht zufällig verschlossen gewesen wäre und die Selbstvernichtung inmitten der dicht besetzten Kirche stattgefunden hätte. Ein zweites Gutenberg-Massaker?
Auch im öffentlichen Umgang mit dieser Tat zeigen sich Parallelen zum Erfurter Schulmassaker des Jahres 2002: Die bundesweite Presse berichtete breit und leuchtete den Fall erschöpfend aus: Vorgänge, Motive, Hintergründe, Reaktionen. Dort hingegen, wo sich diese Fragen am dringendsten stellen sollten, im Freistaat Thüringen, blieb die regionale Presse wortkarg und auf die dürren Fakten sowie die Erfurter Lokalteile beschränkt. Bloß keine Nestbeschmutzung.
Der bedauerliche Vorgang wirft eine Reihe von Fragen auf. Vordergründig geht es dabei um die Motive des Pfarrers, die Vorgeschichte und die anschließenden Reaktionen. Augenzeugen berichten, Weisselberg, der in einer Hallenser Spezialklinik verstarb, habe während seiner Tat die Namen Jesus und (!) Oskar Brüsewitz gerufen. Letzterer ist jener Pfarrer, der sich im Sommer 1976 in der Fußgängerzone von Zeitz verbrannte, um ein Zeichen gegen den Kommunismus zu setzen. Dieser Tat wurde in diesem Jahr in durchaus fragwürdigen Formen gedacht, aber auch mit berechtigten Hinweisen auf die unzweifelhaft hämisch-bösartigen Kommentare der damals herrschenden SED. Ist die Erfurter Selbstverbrennung auch ein Resultat verstiegener Formen der Geschichtserinnerung?
Wie die Erfurter Pröbstin Begrich der Presse unter Berufung auf die Witwe sowie auf Briefe des Toten berichtete, sei »die Ausbreitung des Islams und die Haltung der Kirchen dazu« seit 2003 (Irak-Invasion der USA) für ihn »wirklich ein Dauerthema gewesen«. Der Selbstmord sei durch eine Mischung aus Angst vor dem Islam und Protest gegen diese Weltreligion motiviert. Die FAZ gab dieser Erklärung gleich noch eine Richtung, indem sie titelte, Weisselberg habe »an der Uneindeutigkeit der Kirche« gelitten, wozu die Süddeutsche Zeitung treffend bemerkte: »Als könne der Mann noch leben, hätte die Kirche beizeiten mit Wort und Tat den Islam bekämpft.« Die Frage, die sich jenseits solchen Geplänkels stellt, ist die, ob es in bestimmten konservativ-protestantischen Milieus Ostdeutschlands nach dem Ende des »Kalten Krieges« einen Bedarf an Bi-Polarität und Feindbildern gibt, der sich unter den Vorzeichen des »war on terror« neue Gegenstände sucht. Oder einfacher gefragt: Was ist in einer protestantischen Landeskirche los, in der sich ein pensionierter Pfarrer, der von seinen Bekannten als geistig-rege und liebenswürdig geschildert wird, aus Angst vor dem Islam umbringt? Hat es etwas mit dem kollektivem Unterbewußtsein protestantischer Milieus zu tun, wenn eine solch sinnlose Tat in einer Gesellschaft, in der unter zwei Millionen Nicht-Muslimen gerade einmal dreitausend Muslime (laut Verfassungsschutz: friedlich) leben, sorgfältig als christlicher Märtyrertod inszeniert und über den Namen »Oskar Brüsewitz« mit einem gegen die SED-Herrschaft gerichteten Fanal verbunden wird, an das in diesem Jahr ausführlich erinnert wurde? Und das an einem mit Luther und der Reformation aufs engste konnotierten Ort und Datum?
Meine Überlegungen richten sich auf zwei Komplexe: weltanschaulich motivierte Selbstmorde einerseits, spezifische regionale Ausprägungen der Geschichte des Protestantismus andererseits. Dazu nur zwei kursorische Literaturhinweise:
Nicht zuletzt seit dem vielbeachteten Film Das Leben der Anderen von Henckel von Donnersmark, eines Nachkommen des eng mit dem Pietisten A. H. Francke (Franckesche Stiftungen, Halle) verbundenen Geschlechts des Weimarer Hofadels, steht die Behauptung im Raum, die Hauptursache für die hohe Selbstmordrate in der DDR sei die repressive SED-Herrschaft gewesen. In diesen Tagen wurde eine im Ch. Links Verlag erschienene Untersuchung des Historikers Udo Grashoff öffentlich vorgestellt (»In einem Anfall von Depression …« Selbsttötungen in der DDR), die zu dem Ergebnis kommt, daß die Suizid-Rate im Gebiet der späteren DDR, namentlich in Sachsen und Thüringen bereits im 19. Jahrhundert eklatant über dem deutschen Durchschnitt lag. Der Historiker bringt dies im Gegensatz zu Autoren wie Erhart Neubert in Zusammenhang mit überholten Moralvorstellungen und Weltbildern sowie mit spezifischen Traditionen des Protestantismus.
Gleichfalls in diesem Jahr erschien ein Sammelband mit Regionalstudien zur protestantischen Kirchengeschichte (Manfred Gailus, Wolfgang Kogel: Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen). Aus ihr wird ersichtlich, daß bestimmte Landeskirchen des heutigen Ostdeutschlands die Zentren der Deutschen Christen, auch »SA Jesu Christi« genannt, waren. Dies gilt namentlich für die Kirchen in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. Im Hinblick auf Thüringen konstatiert der in Eisenach tätige Kirchenrat Thomas A. Seidel eine »in der Pfarrerschaft vorhandene antimodernistische Grundhaltung (…) als Kontinuum über die Zäsuren 1918, 1933 und 1945 hinweg bis in die Mitte der 50er Jahre hinein«. Vielleicht reichen diese Kontinuitäten ja noch weiter, ein Indiz ist es, wenn eine Reflexion über Christentum und Sozialismus der aus der bürgerbewegten Berliner Gethsemane-Gemeinde stammenden Erfurter Pröbstin Begrich beim Neujahrsempfang der Linkspartei von prominenten Thüringer Pastoren mit einem Disziplinarverfahren beantwortet wird.
Der Eindruck der Mehrdeutigkeit beim Blick auf die evangelische Kirche in Thüringen verstärkt sich beim arglosen (westdeutschen) Betrachter während der Lektüre eines Berichtes der Welt vom 11. Dezember 2005. Dort berichtete der Junge-Freiheit-Autor Schwilk über eine seltsame Veranstaltung in der Evangelischen Akademie Thüringen: den »Konvent des Sankt-Georgs-Ordens« unter »Leitung des Großkomturs Ulrich Schacht« (ein rechtsradikaler Publizist): »Die Bruderschaft hat es sich laut Ordensregel zur Aufgabe gemacht, Christentum in der säkularen Gesellschaft entschieden und streitbar zu leben« Zu diesem Zwecke beschäftigte man sich mit einer »Annäherung« an den Jenaer Philosophiedozenten und Junge-Freiheit-Autor Günter Zehm und seine im (rechtsradikalen) Antaios-Verlag erschienenen Jenaer Vorlesungen. Dem Kenner der aufklärerischen Bildungsarbeit anderer evangelischer Akademien erscheint dies als eine recht seltsame Veranstaltung, die da unter dem Dach der Thüringer Kirche stattfand.
Vollends muß es jedoch verblüffen, daß der »Spiritual« der »Ordensbruderschaft« jener Thüringer Kirchenrat Seidel ist, dessen historisch-kritische Betrachtungen über »theologische Immobilität« im Zeichen des Antimodernismus oben erwähnt wurden. Offenbar gibt es die von der FAZ im Hinblick auf die Motive des Selbstmordes konstatierte »Uneindeutigkeit der Kirche« tatsächlich, und zwar auf mehreren Ebenen.
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