Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 13. November 2006 , Heft 23

Im Presseclub

von Günter Wirth

Wenn jetzt der Admiralspalast mit seinen verschiedenen Unternehmungen wieder seinen authentischen Platz im Zentrum Berlins einnimmt und zusehends zu einer Attraktion werden wird, wird die Erinnerung nicht nur an die Erlebnisse im Metropoltheater (von denen in der freilich nie verblühten Distel ganz zu schweigen) wieder wach, sondern auch an das Pressecafé im Erdgeschoß und an den Presseclub im ersten Obergeschoß. Der Presseclub war (wie auf andere Weise die eher exklusive Möwe oder der Club der Kulturschaffenden in der Jäger-, dann Otto-Nuschke-Straße) eine Stätte gesellschaftlichen Lebens, von dem man in anderen Breitengraden meint, so etwas habe es in der DDR nicht gegeben. Meine Erinnerungen beziehen sich vornehmlich auf die fünfziger Jahre, und da hat sich für mich allerdings der starke Eindruck bis heute gleichsam unauslöschlich erhalten, wonach dort ein reges gesellschaftliches Leben insofern geherrscht hat, als man über die Grenzen unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Orientierung hinweg zu informellen Gesprächen und zum anregenden Gedankenaustausch zumal über Kulturelles zusammentraf. Meine Erinnerungen sind noch so intensiv, daß ich viele der mir damals direkt und freundschaftlich oder vom Sehen her Bekannten an den Tischen sitzen sehe, an denen sie am liebsten saßen.
Wenn ich – versuchsweise – eine unvollständig bleibende Rekonstruktion dieser Erinnerungen vornehme, dann ist das hierbei entstehende Tableau selbstredend so aufzunehmen, daß die von ihm suggerierte Gleichzeitigkeit so natürlich nicht zutrifft; diese stellt sich nur in der Erinnerung her, kann aber die dem Club eigene Atmosphäre besser nachempfinden lassen. Werfen wir  einen Blick in den nicht großen, aber anziehenden, eben von einer nur ihm zuzuordnenden Atmosphäre geprägten Raum des Clubs (mit einer in den Fünfziger vorzüglichen Gastronomie – Apfeleierkuchen! – und mit Obern, die ihre »klassische« Ausbildung und Diskretion lebten).
Vom Eingang her gesehen hinten rechts, also vor dem Raum, der zu den gastronomischen Einrichtungen gehörte, saßen gegen Abend die Leute von der Distel. Zu anderen Zeiten sah man dort Renate Holland-Moritz und Lothar Kusche (»Ein Floh, einmal ins Ohr gesetzt, frißt sich leicht zum Gehirn durch«), sozusagen am Tisch der Satiriker, zu dem auch Rudolf Hirsch, erst für die Tägliche Rundschau tätig, dann die Legende der Wochenpost, stieß, wenn er nicht unweit davon mit dem nicht zu überhörenden Dr. F. K. Kaul zusammensaß. Und kam der Bonner ADN-Korrespondent, der katholische Publizist Wilhelm Karl Gerst, der damals auch viel für die Berliner Zeitung und die CDU-Presse schrieb, nach Berlin, war er im Bunde der Dritte. So es ihm zeitlich möglich war, wechselte überdies Walter Jupé, später engagierter Abgeordneter in der von mir geleiteten Kulturkommission der Ostberliner Stadtverordnetenversammlung, vom Maxim-Gorki-Theater an Kauls Tisch.
An der Fensterseite mit Blick aufs Metropoltheater waren Maximilian Scheer und Rudolf Leonhard im Gespräch – oder genauer: Scheer sprach und Leonhard hörte zu, und man konnte den Eindruck haben, eigentlich träume er (vor ein paar Jahren ist ja tatsächlich sein Traumbuch erschienen). Eine ähnliche Situation konnte sich an einem der Nachbartische ergeben, an dem Konrad Wolf und Paul Wiens, wie immer seine Ornamente zeichnend, zu sehen waren, und es schien dies eher eine Runde à la Gottfried Keller in Zürich zu sein, nämlich die zuerst eines langen und tiefen, wahrscheinlich schöpferischen Schweigens, dann doch eines regen Diskurses. Um so lauter ging es auf der anderen Fensterseite, zur Friedrichstraße hin, zu. Dort saß Wolf Kaiser, der Brecht-Schauspieler, in großer und fröhlicher Runde – wer hätte da je an sein trauriges Ende denken wollen. Daneben, vom Eingang her gesehen an der linken Ecke neben der Gastronomie, stand der Tisch Günter Caspars, des Aufbau-Lektors, genauer: der Arbeitstisch, wahrscheinlich war es neuerlich ein Fallada, der dran war.
Wiederum auf der anderen Seite des Kaiser-Tisches fiel der lebendige Gesprächsgestus und -stil Otto Nuschkes auf, des CDU-Vorsitzenden, der sich noch immer als Journalist betrachtete und jeden Sonnabend gegen 12 Uhr seinen Sonntagsleitartikel für die Neue Zeit (mit nur einem Wort als Überschrift!) in die Maschine oder, wenn es sein mußte, in die Setzmaschine der Union Druckerei (ich hab’s selber erlebt) diktierte. Westliche Journalisten, die um ein informelles Gespräch ersucht hatten, hatte er in den Club gebeten, und es wurde wieder einmal ein Interview daraus, das ihm den üblichen Ärger bei W. U. einbrachte.
Blickte man mehr ins Innere des Raums, konnte man einen Tisch nicht übersehen, an dem Otto Nuschkes Ministerratskollege Dr. Lothar Bolz, der NDPD-Vorsitzende, thronte, um ihn herum leitende Mitarbeiter des Parteivorstandes und der National-Zeitung, unter ihnen damals auch noch der Kulturpolitiker und Schriftsteller Franz Fühmann, den man später fern dieser Partei – und nicht nur dieser Partei – ortete. Besonderes Interesse mußte der Tisch daneben finden, an dem, wie man prima vista meinen konnte, ein ungleiches Paar Platz gefunden hatte, aber dem war nicht so, auch wenn der eine Gesprächspartner ZK-Sekretär für Wirtschaft war und der andere ein berühmter Künstler: Gerhart Ziller hatte ja früh ein Buch über Frans Masereel, denn um diese beiden handelte es sich, geschrieben. Wieder an einem anderen Tisch in der Mitte des Raumes las Heinz Krüger die F.A.Z.; er war einer der Westberliner Journalisten, die damals in der DDR akkreditiert waren, ein linksbürgerlicher Publizist von Format, der für die linksliberale Fuldaer Volkszeitung schrieb. Später kam Hartmut Bunke an Krügers Tisch, auch er Westberliner aus alter Pastorenfamilie, der viele nonkonformistische Blätter vertrat.
Saß Günter Caspar in der einen Ecke der Fensterfront zur Friedrichstraße, so Albert Norden – er war noch nicht im Politbüro – in der anderen, vor sich Le Monde, The Times und amerikanische Zeitungen, sich selber orientierend und danach andere wohl auch. Ein solcher Hauch von Weltläufigkeit wehte erst recht dort, wo Eduard Claudius, Schriftsteller und Spanienkämpfer, mit spanischen Emigranten zusammengetroffen war – unter ihnen Alvarez del Vayo, der ehemaliger Außenminister des republikanischen Spaniens. Es könnte allerdings sein, daß sich hier Begegnungen unterschiedlicher Art überlagern: Aber ich habe del Vayo auf jeden Fall im Club gesehen – und Claudius auch. Und er war es, der uns anregte, mit dem linkskatholischen spanischen Dichter José Bergamin Kontakt aufzunehmen – was freilich aus unterschiedlichen Gründen nicht gelang.