Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 16. Oktober 2006, Heft 21

Systemwechsel?

von Uri Avnery, Tel Aviv

Wäre Hamlet ein israelischer Reservist gewesen, würde er jetzt deklamieren: »Es ist etwas faul im Staate Israel.«
Der Präsident des Staates weigert sich, sein Amt abzugeben, obwohl er sich mit acht individuellen Anklagen wegen sexueller Belästigung konfrontiert sieht. Er jammert über eine abgebliche Verschwörung.
Der Ministerpräsident und der Verteidigungsminister weigern sich, abzutreten, obwohl die überwältigende Mehrheit des Volkes zu Ehud Olmert (siebzig Prozent) und Amir Peretz (82 Prozent) kein Vertrauen mehr hat. Statt der Errichtung einer unabhängigen juristischen Untersuchungskommission zuzustimmen, setzten sie ein Prüfungskomitee ein, das das Vertrauen der Öffentlichkeit schon verloren hatte, ehe es überhaupt begann, den Libanonkrieg zu untersuchen.
Der Generalstabschef, der sowohl von pensionierten als auch von aktiven Generälen angegriffen wird, erklärt, er werde seine Uniform nicht ausziehen – man solle sie ihm doch vom Leibe reißen.
Der Chef des Knessetkomitees für auswärtige und militärische Angelegenheiten ist wegen Betrugs und Meineids angeklagt.
Der Justizminister steht vor Gericht, weil er seine Zunge in den Mund einer Soldatin gesteckt habe.
Nach den jüngsten Umfragen ist die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung mit der eigenen Situation zufrieden – achtzig Prozent, aber deprimiert über die Situation des Staates – 59 Prozent. Doch die Öffentlichkeit sagt nicht: Wir haben diese Führer gewählt, also ist es unsere Schuld. Sie sagt vielmehr: Das ist nicht unsere Schuld.
Angeklagt wird statt dessen das »System«, unsere parlamentarische Demokratie, weil sie dem Ministerpräsidenten keine volle Amtsperiode von vier Jahren sichert und er zudem jeder Zeit gestürzt werden kann. Außerdem ist er gehalten, Führer der Koalitionsparteien in seine Regierung auch dann aufzunehmen, wenn sie völlig inkompetent sind, ihre Ministerien zu leiten. Der Ministerpräsident könne nicht langfristig planen oder fähige Experten mit den Ministerien beauftragen.
Das alles sei sehr schlecht. Deshalb müßten wir das amerikanische System übernehmen. Dann könne das Volk einen Präsidenten wählen, der mindestens volle vier Jahre sein Amt innehabe. Er werde eine Regierung mit hervorragenden Persönlichkeiten zusammenstellen – jeder ein Experte in seinem Fach. So werde Zion erlöst werden. Dies sei das Wundermittel, eine Arznei, die alle Krankheiten heile – ohne Schmerzen und ohne Verzögerung.
Doch kann man ein politisches System ohne weiteres von einem Land auf ein anderes übertragen? Jeder Staat hat seine eigene Tradition, seine besondere Kultur, seine eigene soziale Zusammensetzung. Ein politisches System muß von innen her wachsen.
Eine solche Übernahme wurde in Israel übrigens schon einmal versucht: Es wurde entschieden, der Ministerpräsident solle direkt gewählt werden – unabhängig von den Knessetwahlen. Bald wurde aber deutlich, daß dieses System noch schlechter als das vorausgegangene war. Also wurde das alte System wieder hergestellt.
Schauen wir in die Vereinigten Staaten, was hat das Präsidialsystem dort erreicht? Dem Präsidenten stehen tatsächlich vier ganze Jahre zur Verfügung – aber viele fügen heute ein »Leider!« hinzu. Wenn entdeckt wird, daß ein vollkommener Idiot gewählt worden ist, der sein Land in verheerende Abenteuer verwickelt, kann er kaum davongejagt werden. In unserm parlamentarischen System kann – wie in Großbritannien auch – ein Ministerpräsident verhältnismäßig leicht abgesetzt werden. Tony Blair wird innerhalb des nächsten Jahres verschwinden, doch George Bush wird seine Amtszeit zu Ende führen.
Sind die amerikanischen Minister kompetenter als die unsrigen? Ist Donald Rumsfeld eine kleinere Katastrophe als Amir Peretz?
Um gewählt zu werden, benötigt ein Kandidat außerdem Unmengen von Geld. Dies kann nur von Interessengruppen, Lobbys und riesigen Gesellschaften kommen. Das amerikanische System ist bis ins Mark hinein korrupt – es herrscht eine so tiefe und weit verbreitete Korruption, daß die Sünden von Olmert & Co harmlos erscheinen.
Doch mit Logik kommen wir bei dieser Diskussion nicht weiter, denn die Forderung nach einem Systemwechsel soll etwas viel Gefährlicheres verdecken: den Ruf nach einem Führer.
Solch ein Ruf wird immer in Krisenzeiten laut. Wenn sich das Gefühl einer Niederlage und sich ein Klima des Mißtrauens gegenüber der alten Führung breitmachen, verlangt es viele Menschen plötzlich nach einem Übervater. Die Demokratie erscheint ihnen auf einmal schwach und faul, besonders wenn sie zugleich mit der Legende konfrontiert werden, die Politiker hätten »die Armee am Sieg gehindert«. Ein starker Führer werde die Probleme mit eiserner Hand schon lösen. Eine Politik des Dialogs und der Verhandlungen entspreche nur Schwächlingen.
Man muß sich nur anschauen, wer den Vorschlag, via Präsidialsystem einen allmächtigen Führer zu installieren, macht:
Der erste Befürworter für einen »Systemwechsel« ist Avigdor Liberman, der Vorsitzende der Israel-Beitenu-Partei (Israel – unser Heim), die sich vor allem aus Immigranten aus der früheren Sowjetunion zusammensetzt. Es ist eine Partei der äußersten Rechten – wenn wir an dieser Stelle einmal untertreiben wollen. In anderen Ländern würde sie anders bezeichnet werden.
Die Israel-Beitenu-Partei steht für einen ungebremsten Nationalismus und für Fremdenfeindlichkeit. Sie ist viel radikaler als Jörg Haider in Österreich und Jean-Marie Le-Pen in Frankreich. Sie ruft die Palästinenser auf, das Land zu verlassen, einschließlich der arabischen Bürger in Israel selbst, die zwanzig Prozent der Bevölkerung ausmachen. Das hindert Ehud Olmert nicht daran, öffentlich zu erklären, er hätte diese Partei gerne in seiner Regierung. (Zur Erinnerung: Als sich Haiders Partei in die österreichische Regierung eintrat, rief Israel seinen Botschafter aus Wien zurück).
Liberman, der gerne Verteidigungsminister werden möchte, hat fünf Bedingungen gestellt, um sich der Regierung anzuschließen. Die erste Bedingung: die Annahme des Präsidentensystems. Klar ist auch, wer sein Präsidentschaftskandidat ist: Avigdor Liberman.
Wenn jetzt Wahlen abgehalten würden, dann würde – laut Meinungsumfragen – Libermans Partei von 120 Sitzen der Knesset sechzehn Sitze erhalten (augenblicklich verfügt sie über elf Sitze).
Hinzu muß man die neun Sitze der Nationalen Union in der gegenwärtigen Knesset zählen, deren Parteivorsitzender ein eine Kipa tragender General ist. Er fordert öffentlich die Vertreibung aller arabischen Einwohner aus den besetzten palästinensischen Gebieten und für die arabischen Bürger Israels die Abschaffung sämtlicher demokratischer Rechte. Wenn zwei solche Parteien ein Fünftel des Wahlvolks repräsentieren, gibt es Gründe, sehr besorgt zu sein.
Ich glaube an die israelische Demokratie. Sie ist ein unglaubliches Phänomen, wenn man bedenkt, woher die meisten israelischen Bürger beziehungsweise ihre Eltern einst kamen: aus dem zaristischen und kommunistischen Rußland, aus dem Polen Pilsudskis und seiner Erben, aus Marokko, dem Irak, Iran und Syrien – neben denen, die im kolonialen Palästina unter der Herrschaft des britischen Hochkommissars geboren wurden. Wie die Neuerweckung der hebräischen Sprache, die in der Welt keine Parallele hat, ist diese Demokratie ein Wunder. (Dabei sei nicht vergessen: Demokratie herrscht nur im eigentlichen Israel. In den besetzten Gebieten ist eine völlig andere Situation.)
Ich glaube nicht, daß gegenwärtig die wirkliche Gefahr eines aufkommenden Faschismus besteht. Trotzdem müssen wir jeden Tag und jede Stunde sehr auf der Hut sein. Für faschistische Tendenzen sind hier einige Faktoren gegeben: das Gefühl der Niederlage im Krieg, die »Dolchstoßlegende« zur Entlastung der Armee, der Vertrauensverlust in das demokratische System, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die Hetze gegen die nationale Minderheit, die als Fünfte Kolonne beschrieben wird.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, von der Redaktion gekürzt