Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 16. Oktober 2006, Heft 21

Stadtkriegsfront

von Klaus Hart, São Paulo

Der Irak und der Libanon sind täglich wegen der vielen unschuldigen Opfer in den Schlagzeilen – Brasilien nicht. Obwohl in dem Tropenland jährlich weit mehr Menschen umkommen als im Irakkrieg, und in Brasilien Folter alltäglich ist. Ein bekannter brasilianischer Samba heißt O Iraque è aqui – Der Irak ist hier.
Ferrèz, dreißig, mit bürgerlichem Namen Reginaldo Ferreira da Silva, wurde im brasilianischen Stadtkrieg unfreiwillig zum Frontberichterstatter, weil er über die von extremer Gewalt geprägte Slumperipherie der Megacity São Paulo schreibt. Ferrez, dessen Bücher bei einem angesehenen brasilianischen Verlag erscheinen und bereits ins Französische, Spanische und Italienische übersetzt wurden, erhält derzeit wegen seines literarischen und politischen Engagements Morddrohungen. Noch nie war er so in Lebensgefahr. In den Slums ist Bücherlesen Luxus, die meisten Bewohner sind funktionelle Analphabeten. Deshalb wurde Ferrèz auch zum Rapper, ist in den Ghettos dadurch unterdessen weit bekannter als durch seine Bücher.
Vom Goethe-Institut São Paulos bis zum Slumviertel Capao Redondo sind es mit den entsetzlich lauten, überfüllten Vorstadtbussen etwa drei Stunden. In Capao Redondo hausen eine Million Menschen, darunter Ferrèz. Seit Mai verübt das größte brasilianische Verbrechersyndikat PCC, Erstes Kommando der Hauptstadt, eine nicht endende Serie von Terroranschlägen gegen den Staat, erschießt an der Peripherie täglich Polizisten, Gefängniswärter und deren Angehörige. Bisher wurden weit über sechshundert Tote gezählt, die meisten in Capao Redondo. Ferrèz liefert als einziger fundierte Berichte von der Front: In seinen Büchern, seiner Zeitschrift, seinem Blog analysiert er Gewalt und Gegengewalt, die Rachefeldzüge der Polizei.
Wir reden am Kaffeestand, im Krach einer vollen Bäckerei miteinander, hier fühlt sich Ferrèz sicher. »Für mich ist das hier schon immer wie im Krieg. Doch die Eliten haben es erst jetzt, in diesen Tagen, wegen der Attentatswelle gespürt. Da haben sie in ihren Nobelvierteln die Panik gekriegt, sich verbarrikadiert und versteckt. Nur – so leben wir doch schon jahrelang. Durch Morde habe ich über zwanzig meiner Freunde verloren, das ist normal hier. Man tötet wahllos, wegen Banalitäten. Dazu kann man doch nicht schweigen. Capao Redondo – das ist wie ein Extra-Land, es ist dieses Brasilien, das in Deutschland und anderswo gewöhnlich nicht wahrgenommen wird. Dort denkt man bei Brasilien meist nur an Exotismus, Mulattinnen, Tropenwälder. Das hier ist völlig anders.«
Als Ferrèz mit seinen Blog-Frontberichten begann, stellten Brasiliens Medien die Sache noch so dar, als ob die Polizei lediglich auf die PCC-Attacken reagiere und so die gefährlichsten Verbrecher bekämpfe. Doch Ferrèz beobachtete, daß es meistens Unschuldige trifft und damit Haß und Gewalt in der Gesellschaft weiter geschürt werden. »Ich mache den Versuch, der herrschenden Elite-Meinung etwas entgegenzustellen. Denn die Eliten stimulieren ja das Morden, die Vorurteile gegen Slumbewohner. Vierzig Prozent der Getöteten hier waren junge Pizza-Austräger, die nachts mit ihren Motorrädern zu den Kunden fahren. Die Polizei feuerte einfach auf Leute, die gerade auf der Straße waren. Niemand prangert das an, niemand spricht darüber, das hat mich aufgeregt. Und ich sagte mir: Dann muß ich es eben tun. Also habe ich den Mund aufgemacht, und das hatte Wirkung. Die Polizei wurde angewiesen, vorsichtiger, weniger brutal vorzugehen. Man sagte den Beamten, Vorsicht, da gibt es jetzt welche, die darüber berichten. Nun bedrohen sie mich mit Mord.«
»Klar, sagt Ferrèz, »ich hoffe, daß mir nichts passiert, aber ich mache mir um den Tod auch keine Sorgen. Denn ehrlich gesagt, ich habe doch alles erreicht, was ich wollte. Ich habe ein Buch geschrieben, das sich verkauft, ich habe meiner Mutter, meiner Frau ein besseres Leben schaffen können. Jetzt habe ich keine Träume mehr, ich bin hoffnungslos, weil sich diese Realität hier nicht bessert, alles nur schlechter wird im Viertel. Ich sehe beim besten Willen keine Ehrlichkeit, weder bei den brasilianischen Politikern noch bei den Eliten, nicht mal in unserm Volk. Schau den Leuten ins Gesicht, da siehst du Traurigkeit. Sie engagieren sich nicht, ergeben sich dem Zuckerrohrschnaps, sind mutlos. Hier laufen nur Körper rum, haufenweise, ohne Richtung, Orientierung.«
»In Deutschland denken viele, Staatschef Lula mache progressive Politik, auch für einen wie dich, für die Leute im Slum. Lula spricht doch jeden Tag von Riesenerfolgen … Es stimmt: Die Lula-Regierung ist weniger schlecht als die vorangegangene, sie ist das kleinere Übel. Aber was hat sich denn seit Lulas Amtsantritt getan? Es gibt nicht mehr Arbeit. An der Slumperipherie hat sich nichts gebessert. Für die Unternehmer sieht die Sache natürlich ganz anders aus.«
Drei Viertel der 185 Millionen Brasilianer, so sagen neue Studien, sind nicht in der Lage, einen einfachen Zeitungs- oder einen Buchtext zu lesen und zu verstehen. Das vereinfacht die Manipulierung der Pflichtwähler kolossal, dient Neopopulisten wie dem Staatschef ungemein.
Wer sind die Leser von Ferrèz? Sein Buch Capao Pecado produzierte er selber, zog fünfzig Kopien, verteilte es unter Freunden und Bekannten des Viertels. Manche von ihnen arbeiten für die Mittel- und Oberschicht als Hausdiener, Wächter, zeigten es den Arbeitgebern. Einige von ihnen bestellten daraufhin bei Ferrèz Capao Pecado, der die Bücher persönlich zu deren Villen brachte, sie dort den bewaffneten Wächtern übergab und die Besteller natürlich nicht zu Gesicht bekam.
»Ja, so lief es – die Peripherie hat das Buch den Betuchten gezeigt, jetzt ist es bei einem Verlag in der fünften Auflage. Das System hatte für mich nichts vorgesehen, also habe ich mich auf meine Weise organisiert, mache meine Literatur. Als ich in einer Bäckerei arbeitete, habe ich nebenher etwas auf Zettel gekritzelt, daraus dann zu Hause eine Geschichte montiert. Das lesen jetzt sogar Leute aus der Upperclass. Manche von denen sagen mir, Puta, du hast recht, die Oberschicht ist idiotisch, die will sich nicht ändern. Dreihundert Familien besitzen achtzig Prozent allen Einkommens, allen Geldes – wir kriegen nur den allerletzten Rest. Ja, unsere Eliten handeln selbstmörderisch, suchen sich in ihren Privilegierten-Ghettos abzuschotten. Langfristig planen die ihren eigenen Tod. Das kann hier alles einmal explodieren. Die jungen Menschen hier haben doch keinerlei Perspektiven. Frag hier mal ein Kind. Was willst du denn werden? Da lacht es dich aus, sagt, ich will nichts werden, wie sollte ich denn?«