Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 30. Oktober 2006, Heft 22

Schüsse in der Hardenbergstraße

von Achim Engelberg

Obwohl er nachweislich einige wenige Monate zuvor Talaat Pascha am hellichten Tage in der Berliner Hardenbergstraße erschossen hat, wurde Soghomon Tehlirjan am 3. Juni 1921 in Berlin freigesprochen. Wie konnte jemand, der sich offen bekannte, einen Menschen mit einem Revolver niedergestreckt zu haben, von einem regulären Gericht freigesprochen werden?
Mit diesem hochdramatischen Vorgang befaßt sich Hans-Werner Kroesinger in seinem Dokumentarstück History Tilt, am ehesten mit Historisches Lanzenstechen zu übersetzen, denn darum geht es. Die Schauspieler Judica Albrecht, Nicola Schößler, Godehard Giese, Lajos Talamonti wühlen in den Akten des Politischen Archivs des deutschen Auswärtigen Amtes und der stenographischen Prozeßmitschrift. Eine alte Geschichte, die bis heute die Gemüter bewegt, wird dadurch aber leider nur mehr berichtet als dargestellt.
Es beginnt in Edirne in der Türkei. In dieser bulgarisch-türkischen Grenzstadt, also in Europa, steht mit der Selimiye-Moschee der höchste Sakralbau der islamischen Welt. Es ist ein Ort, an dem man bis heute das Leben im Osmanischen Reich ahnungsvoll nachvollziehen kann. Als Talaat Pascha 1874 hier geboren wurde, hieß die Stadt noch Adrianopol. Der Heranwachsende spürte das nahende Auseinanderbrechen des Osmanischen Reiches und wurde Mitglied des nationalistischen Flügels der jungtürkischen Bewegung, die eine ethnisch reine Türkei anstrebte. Er entstammte jener Generation, die in einem seit Jahrzehnten schwelenden Krieg auf dem Balkan aufwuchs, der immer wieder in Gefechten und militärischen Strafaktionen ausbrach.
Im Jahre 1908, als Istanbul noch Konstantinopel hieß, agierte Talaat Pascha als führender Kopf beim Sturz von Sultan Abdülhamid II. und gelangte mit seinen Mitverschwörern an die Macht. Dabei benutzten sie »bolschewistische« Organisationsprinzipien. Eine Avantgardepartei sollte »die Seele des Staates« sein. Der theoretische Kopf der Bewegung, Akchura, stammte aus Simbirsk an der Wolga, dem gleichen Ort, in dem auch Lenin geboren worden war. Ein Jahr nach Lenins bolschewistischer Gründungsschrift Was tun? verfaßte er die Gründungsschrift des türkischen Nationalismus.
Während des Ersten Weltkrieges setzte Talaat Pascha auf Deutschland, die Türkei wurde zum Hauptverbündeten. Das führte zu seinem steilen Aufstieg und seinem tiefen Fall – im Februar 1917 wurde er Großwesir, also Regierungschef, aber bereits anderthalb Jahre später, im Oktober 1918, mußte er nach der Niederlage des Deutschen Reiches zurücktreten und  an Bord eines deutschen Torpedobootes über den besetzten Krimhafen Sewastopol nach Berlin fliehen. Es war die letzte deutsche Kriegshandlung in der Türkei. Während er, geschützt vom Auswärtigen Amt, in einer Neun-Zimmer-Wohnung in Charlottenburg (am heutigen Ernst-Reuter-Platz) sein Comeback in der Türkei vorbereitete, erfuhr er, daß er in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde.
Anatolien. Hier wuchs der Attentäter Soghomon Tehlirjan auf, er erlebte, wie das jahrhundertealte Zusammenleben der Türken und der Armenier zerbrach und Armenier in Anatolien getötet oder vertrieben wurden. Bis zum heutigen Tag ist die türkisch-armenische Grenze geschlossen, leugnet die Türkei den Völkermord, beharrt Armenien auf dessen Anerkennung. Seit vergangenem Jahr gibt es nun erstmalig auch versöhnliche Töne aus der Türkei.
Im Herbst 1920 erhielt Tehlirjan von Exilarmeniern aus den USA, genauer: im Bostoner Restaurant Koko, den Auftrag, in Berlin Talaat Pascha zu töten. Es war das wichtigste Attentat der Vergeltungsaktion Nemesis.
»Ich habe einen Menschen getötet, doch ein Mörder bin ich nicht«, insistierte der Angeklagte vor dem Landgericht Berlin-Moabit in der Turmstraße und wurde selbst zum Ankläger. Mit Talaat Pascha habe er den Hauptverantwortlichen für den Genozid an seinem Volk gerichtet, nicht ermordet. In seinem leidenschaftlichen Schlußplädoyer meinte Rechtsanwalt Werthauer: »Welche Jury der ganzen Welt würde Wilhelm Tell verurteilt haben, weil er den Landvogt niedergeschossen hat?« Weil die Massaker unter anderem durch Augenzeugenberichte wie die vom Theologen Johannes Lepsius und durch die Fotos vom deutschen Leutnant Armin T. Wegener dokumentiert wurden – bei letzterem gegen den Befehl seiner Vorgesetzten –, verließ Soghomon Tehlirjan am 3. Juni 1921 das Berliner Gerichtsgebäude als freier Mann.
Allerdings war sein Augenzeugenbericht, der die Deportation seiner Eltern im Sommer 1915 wiedergibt, als solcher gefälscht, denn zu der Zeit kämpfte er selbst in einem armenischen Freiwilligenbataillon auf russischer Seite. Er verschwieg es, weil die Jungtürken ihre Untaten damit legitimierten, daß die Armenier die fünfte Kolonne Rußlands seien. Das Gericht wußte auch nichts von der Racheorganisation Nemesis.
Der sensationelle Freispruch machte die Leiden des armenischen Volkes bekannt. Doch schon wenige Jahre später waren die Massaker da hinten weit in der Türkei vergessen. Später zerstreute ein ehemaliger Gefreiter Bedenken: »Wer denkt denn heute noch an die Armenier?« Sein Name war Adolf Hitler. Und tatsächlich lernten die Nazis die Dynamik der Eskalation, vom Ratschlag »Kauft nicht bei Armeniern!« bis zum Massenmord.
Über den Prozeß Talaat Pascha schreibt in seinen Erinnerungen Raphael Lemkin, der als Vater der UN-Völkermordkonvention gilt: »Tehlirjan hatte sich selbst zum Vollstrecker des Gewissens der Menschheit ernannt. Doch kann jemand sich selbst dazu ernennen, Gerechtigkeit auszuüben? Wird eine solche Art von Gerechtigkeit nicht eher von Emotionen beherrscht sein und zur Karikatur ausarten? In diesem Augenblick erhielt der Mord an einem unschuldigen Volk eine größere Bedeutung für mich. Ich hatte zwar noch keine endgültigen Antworten, aber das sichere Gefühl, daß die Welt ein Gesetz gegen diese Form von rassisch und religiös begründeten Mord erlassen mußte. Souveränität, meinte ich, kann nicht als das Recht mißverstanden werden, Millionen unschuldiger Menschen umzubringen.«
Und Robert M. W. Kempner, US-Ankläger im Nürnberger Prozeß gegen die Nazis, zuvor als Jurastudent Beobachter beim Prozeß Talaat Pascha, formulierte ein grundlegendes Dilemma: »Wie weit darf sich ein Staat in die Angelegenheiten eines anderen souveränen Staates einmischen, wenn dieser Verbrechen gegen die Menschheit begeht?«
Die sterblichen Überreste des Talaat Pascha konnten erst 1943 in die Türkei überführt werden, wo sie heute auf dem Freiheitshügel in Istanbul liegen. Die Schwierigkeit der modernen Türkei mit einem Massenmörder wie Talaat Pascha liegt darin, daß selbst der Staatsgründer Atatürk auf dem Höhepunkt seiner Macht zugab, dieser hätte Voraussetzungen für sein Wirken geschaffen.

Die Geschichte erzählt Rolf Hosfeld in seinem lesenswerten Buch »Operation Nemesis«, Kiepenheuer & Witsch 2005, 368 Seiten, 19,90 Euro.