Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 30. Oktober 2006, Heft 22

Krimtaxi

von Elke Scherstjanoi

Monolog des Fuhrunternehmers Valeri Petrowitsch über die Sehens- und Merkwürdigkeiten seiner zweiten Heimat:
Das war also Ihr erster Besuch hier auf der Krim. Zwei Wochen sind nicht viel. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen auf der letzten Fahrt noch ein paar schöne Ecken. Wir nehmen am besten die alte Straße. Die Autofahrer nennen sie die alte Straße, weil die direkte Verbindung nach Feodosija erst vor kurzem fertig wurde. Die alte fahren wir aber lieber. Im Winter ist sie nicht so stark vereist und schneeverweht wie die neue. Im Herbst steigen wir gern mal aus, gehen ein paar Schritte in die Wiesen, um Pilze zu sammeln. Über die alte Straße braucht man bis in die Stadt rund ein Drittel mehr Zeit. Aber Sie wollen ja nach Simferopol, da biegen wir auf halber Strecke ohnehin von der alten Straße ab.
Hier kommen wir an einem schönen Berg vorbei. Der Volksmund nennt ihn Madame Brodska. In Feodosija soll es einst einen bekannten Apotheker gegeben haben, der eine sehr füllige Gattin hatte. Die muß beeindruckend gewesen sein. Und weil dieser Berg mit seinen zwei gleichmäßig runden, durch eine Einbuchtung getrennten Hängen aussieht wie der Hintern einer Frau, die auf dem Bauch liegt, bekam er ihren Namen. Sehen Sie, wie herrlich sie da ruht, die Madame Brodska, ein schönes Popochen, nicht wahr.
Hier sind überall kleine Dörfchen, alte Siedlungen. Nach Süden hin beginnt ein großes Weinanbaugebiet. Die Ureinwohner haben kaum Wein angebaut, sie waren umherziehende Viehzüchter. Den Wein haben die Griechen mitgebracht, und später haben die Russen Gärten und Weinterrassen angelegt.
Da hinten sehen Sie oben auf dem Berg ein großes Segelflugzeug – ein Denkmal an die Zeit der Versuchsflugschule. Am Hang gibt es nämlich ganz hervorragende, seltene Aufwinde. Als man sie entdeckte, wurde hier ein Institut für experimentelles Segelfliegen aufgebaut. Noch vor dem Krieg. Das hat sehr lange bestanden. Nach ihm wurde auch der bekannte Badeort Koktebel, wo Maximilijan Voloschin lebte und wo Marina Zwetajewa und andere Größen der russischen Literatur zu Gast waren, in Planerskoje umbenannt. Heute heißt er wieder Koktebel. Das Denkmal ist vor einigen Jahren erneuert worden.
In dieser Gegend gibt es viele Heilquellen. Vor der Revolution wurden einige davon von einem Frauenkloster, dem zweitgrößten russisch-orthodoxen Frauenkloster in Rußland mit bis zu fünfhundert Nonnen, bewirtschaftet. Die verkauften das Wasser und boten Heilkuren an. Dann wurde das Kloster aufgelöst. Aus der Anlage wurde, so viel ich weiß, eine Genossenschaft. Sie soll Arbeit der Frau geheißen haben. Heute sind die Anlagen wieder in Kirchenbesitz, 32 Nonnen leben jetzt dort. Hier der Wegweiser zur Klosteranlage. Auf der anderen Seite der Straße, im Wald, versucht irgendein pfiffiger Kerl, eine andere Wunderquelle zu Geld zu machen. Da eine alte Kuranlage, die war in den Jahren der Sowjetunion viel genutzt worden …
Und jetzt machen wir eine kleine Pause. Schauen Sie, hier ist es hübsch. Noch eine Quelle. Wie das sprudelt! Die Leute kommen mit großen Kanistern und holen sich Trinkwasser. Das Drumherum haben sie erst im letzten Jahr für die Touristen hergerichtet. Gehen Sie ruhig, kühlen Sie sich ein bißchen ab. Im Hof des Hauses steht übrigens ein Wunderbaum. Jedenfalls halten ihn viele dafür. Er erfüllt angeblich Wünsche, wenn man kleine Schleifchen und Bänder an seine Zweige hängt.
Jetzt entsteht hier ein großes Restaurant. Ich frage mich bloß, wer soll denn hierherkommen. Touristen sieht man kaum. Die Projektanten und Betreiber solcher Anlagen, das sind meist Tataren, die machen sich etwas vor. Touristen gibt’s bestenfalls in den Regionen am Meer!
Wenn wir jetzt weiterfahren, werden Sie viele neue Wohnhäuser sehen. Das sind Tatarensiedlungen. In den letzten Jahren sind viele Tataren auf die Krim gekommen. Aus den früheren Sowjetrepubliken in Asien, aus der Türkei … Sie wollen in ihre Heimat zurück. Viele haben ‘ne Menge Geld, und staatliche Hilfe kriegen sie auch. Man weist ihnen Boden zu, sie bauen, richten sich ein. Probleme gibt’s natürlich genug. Wie überall, wo es nationale Minderheiten gibt. In Bachtschyssaraj, der alten Tatarenhauptstadt, gab es unlängst Randale wegen eines Basars, der angeblich auf einer heiligen moslemischen Anlage steht. Die meisten Händler sind Russen, und die haben natürlich protestiert, als der tatarische Bürgermeister den Beschwerden einiger Glaubensgenossen nachgeben und den Basar räumen wollte.
Sechzig Prozent der Einwohner der Krim sind Russen. Nachkommen von denen aus Katharinas Zeiten, aber auch solche, die während der Zugehörigkeit der Krim zur Russischen Sowjetrepublik hierherzogen. Ich kam erst, nachdem Chruschtschow die Krim an die Ukraine gegeben hatte, hierher. Ich stamme aus Rußland, an der Grenze zu Weißrußland. Meine Mutter lebt noch immer dort. Ich besuche sie jedes Jahr, und eigentlich sagt mir mein Gefühl, daß das dort meine Heimat ist. Aber jetzt sind wir hier verwurzelt. Ich hatte in einem Großbetrieb Arbeit gefunden. Rüstungsindustrie, Tests von Torpedos. Wir haben gut verdient, haben unsere Kinder großgezogen. Kamen immer alle gut miteinander aus. Jetzt kriege ich eine Rente von umgerechnet siebzig Dollar im Monat. Das ist nicht eben viel, und so muß ich halt Taxifahren …
Gedient habe ich in der DDR. Viel gesehen hab ich nicht. Einmal war ich bei einem Weiterbildungskursus in Potsdam. Man hat uns den Park von Sanssouci gezeigt. Die Tischdecke, die ich damals als Geschenk mitgebracht habe, liegt bei uns noch immer auf dem Wohnzimmertisch. Schauen Sie, da rechts, die große weiße Felswand, alles Kalk, über hundert Meter hoch.
Hier an dieser Stelle zeige ich meinen Fahrgästen immer die großen Lavendelfelder. Bislang habe ich immer hinzugefügt: Wir haben hier eine große Ölpresse, wo aus den Kräutern Öle und Essenzen hergestellt werden. Aber unlängst sagte eine Frau, der Betrieb sei lange stillgelegt. Und die Maschinen haben sie angeblich weggeschleppt, geklaut sozusagen. Ja, so geht’s zu bei uns.
An den Berghängen da hinten werden oft Filme gedreht. Haben Sie Die 9. Rotte gesehen? Ein grausamer Film über den Afghanistankrieg. Hier sind die Landschaftsaufnahmen dazu entstanden. Wochenlang lagerten die Kinoleute mit Zelten hier. Die Zelte, die sie hier am Straßenrand sehen, haben damit aber nichts zu tun. Weiß der Teufel, was das für welche sind. Junge Leute, ukrainische Fahne …
Ach, mit der Politik ist es in der Ukraine doch hoffnungslos. Nicht einmal ‘ne Regierung können die bilden. Prügeln sich im Parlament, und der Chef ruft: »Haut nicht so doll zu, das schädigt unser Ansehen!« Ein bißchen Zuhauen schädigt das Ansehen also nicht! Was soll man dazu noch sagen.
Simferopol. Da vorn geht’s zum Flughafen. Ich bringe Sie noch bis zur Schalterhalle.