Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 16. Oktober 2006, Heft 21

Heimat und Exil

von André Herzberg

Mein Onkel ist wieder mal da. Meine Schwester und ich haben ihn in die Ausstellung Heimat und Exil begleitet, die heute im Jüdischen Museum Berlin eröffnet wurde. Mein Vater fuhr uns mit dem Auto hin, aber er kam nicht mit hinein, er geht zu keinen Veranstaltungen, auf denen Israelis sprechen, er ist gegen die Politik in Israel.
Mein Onkel geht am Krückstock, ist 96, sagt nicht viel, wenn, dann erzählt er immer wieder alte Geschichten. Das ist schon so, seit ich denken kann. 1955, im Jahr meiner Geburt, kam er aus Kapstadt. In Berlin wartete schon mein Großvater, angereist aus New York. Mein Vater (seit 1947 zurück in Deutschland) empfing die beiden, alle drei hatten sich seit 22 Jahren nicht gesehen.
Mein Großvater, ein angesehener Lederwarenhändler aus Hannover und deutsch-national eingestellt, hatte sich lange geweigert, die Realitäten anzuerkennen. Meinen Onkel hatte er ohne Geld aus dem Haus verstoßen, weil er linke Ansichten verfolgte. Mein Onkel baute sich in Südafrika eine Existenz auf, mein Vater, der jüngste, wurde nach England geschickt, dort wurde er Kommunist, heiratete. Den Alten sperrten die Nazis ein Jahr in Buchenwald ein, er hatte illegal Lebensmittel für das jüdische Altersheim besorgt. Schließlich gelang es meiner Oma, ihn rauszuholen, erst aus dem KZ, dann aus Deutschland, sie bestach einen hohen SS-Mann, dann fuhren sie über Havanna nach New York.
Nun saßen sie alle in unserer Wohnung. Sie hätten sich viel zu sagen gehabt, aber worüber konnten sie sprechen, ohne zu streiten. Großvater wollte noch mal nach Hannover, doch das Haus und das Vermögen waren weg, New York war für die Alten kein Ruhesitz; doch mein Vater wollte oder konnte seine alten Eltern auch nicht aufnehmen. Mein Onkel sprach von seiner neuen Heimat. Opa und Oma sind später zu ihm nach Südafrika gezogen und dort gestorben. Die »Wiedergutmachung« für Haus und Vermögen hat mein Großvater für eine Synagoge in New York gespendet und die Unfähigkeit, über Gefühle zu reden, an seine Nachkommen weitergegeben.
Manchmal holte meine Mutter mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf, Dein Opa ist am Telefon: »Wie geht’s mit der Schule?«, hallte es durch den Hörer. Anschließend durfte ich wieder ins Bett. Als ich mich später an Beatmusik begeisterte, bat ich meinen Onkel, der immer mal wieder vorbeischaute, mir eine Platte aus dem Westen mitzubringen. Ich bekam die Schicksalsmelodie.
Während meiner NVA-Zeit schrieb ich meinem Vater, ich würde es dort nicht mehr aushalten, Soldaten aus meinem Zimmer hatten nach Dienstschluß heimlich Führers Geburtstag gefeiert, er glaubte mir nicht. So setzte sich die Familienneurose fort.
Juden aus Deutschland sind in über achtzig Länder dieser Welt emigriert, sie haben die unterschiedlichsten Schicksale erfahren. Einige wie meine Eltern kamen zurück, um wieder in Deutschland zu leben. Doch in der Ausstellung Heimat und Exil wird die Möglichkeit DDR nicht einmal erwähnt.
In meiner Familie haben sich wohl alle immer wieder zurück nach Deutschland gesehnt, meine Eltern meinten, in der DDR ihre Heimat zu finden – doch das ist eine lange Geschichte.