von Mirjana Wittmann
Ausgerechnet ein deutsches Buch wurde am serbischen Stand bei der letzten Frankfurter Buchmesse gefeiert – eine einmalige Sammlung serbischer Lyrik des 20. Jahrhunderts, das jüngste Werk des emeritierten Slawistik-Professors Manfred Jähnichen aus Berlin.
Mehrere Jahre Arbeit erfordert so eine Anthologie, weiß Jähnichen, der schon ähnliche Bände slawischer Poesie herausgegeben hat. Er engagierte über dreißig Nachdichter, peinlichst darauf bedacht, nicht nur dem Inhalt, sondern auch dem Reim des Originals treu zu bleiben. Das Ergebnis ist eine großartige, über vierhundert Seiten starke Sammlung von 265 Gedichten, mit der ein ganzes Jahrhundert poetisch illustriert wird. Über achtzig serbische Dichter von der Moderne bis zu den späten neunziger Jahren werden zum ersten Mal in einer derart vollständigen und repräsentativen Form dem deutschen Lesepublikum vorgestellt.
Kleine Kulturen wie die der Serben – Manfred Jähnichen läßt allerdings nur den Ausdruck »nicht dominante« Kulturen gelten – haben es schwer, Gehör zu finden. Um die serbische Prosa – außer dem Nobelpreisträger Ivo Andricˇ haben auch jüngere Autoren wie Aleksandar Tisˇma, Danilo Kisˇ, Bora C´osic´ oder David Albahari hier ihre begeisterten Leser gefunden – ist es nicht gar so schlecht bestellt. Aber wer liest schon Lyrik? Vasko Popa und Desanka Maksimovic´, Milosˇ Crnjanski und Oskar Davicˇo – sie sind alle schon einmal ins Deutsche übersetzt worden und dennoch fast unbekannt geblieben. Nun stehen ihre und andere Gedichte, die bisher nur Spezialisten und Liebhabern vorbehalten waren, in einem Band zur Verfügung.
Nach dem spezifischen Merkmal der serbischen Lyrik gefragt, antwortet der Herausgeber: »Die Freiheitsliebe.«
Man darf nicht unberücksichtigt lassen, daß die fünfhundertjährige türkische Herrschaft in Teilen des Balkans bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dauerte, was einerseits eine Anbindung an die europäischen Strömungen erschwerte, andererseits dazu führte, daß die Poesie stark patriotisch-romantisch geprägt wurde. Nach der Jahrhundertwende schaffte man jedoch mit Dichtern wie Jovan Ducˇic´ und Milan Rakic´ den Sprung in die Moderne. Seitdem folgte man zeitgleich, wie die zahlreichen Beispiele unterschiedlicher Stile belegen, allen in Europa aktuellen Ausdrucksformen.
Besonders gut ist in Jähnichens chronologisch geordneter Auswahl die serbische Avantgarde vertreten mit ihrem »Zenitismus« und mit dem Surrealismus, der neben dem französischen als der bemerkenswerteste in Europa gilt. Unter den heutigen Dichtern wurde ein herausragender Platz dem teilweise in Baden-Württemberg lebenden Miodrag Pavlovic´ eingeräumt, dessen Romane unlängst in deutscher Übersetzung erschienen. Einem der Gedichte Pavlovic´s ist übrigens der wunderschöne, zukunftsweisende, ja sogar programmatische Titel dieser Anthologie Das Lied öffnet die Berge entnommen.
Programmatisch, weil Manfred Jähnichen mit dieser Anthologie einen Zweck verfolgte. Eigentlich hatte er vor, eine Anthologie der mazedonischen Lyrik herauszubringen, als sich Ende der neunziger Jahre die Ereignisse auf dem Balkan überstürzten. Die Serben wurden in den Medien zunehmend als Barbaren dargestellt. Der undifferenzierten, die Serben pauschal verurteilenden Propaganda wollte der profunde Kenner slawischer Literaturen ein Kontrastbild entgegenhalten. So beschloß er kurzerhand, statt der mazedonischen die serbische Poesie vorzustellen, um zu zeigen, »wie welthaltig die serbische Kultur ist und welch ästhetische Qualität sie besitzt«, um zu beweisen, »daß die serbische Literatur zu Europa gehört«.
Bewußt hat er in seiner Anthologie auch die Bezüge zur deutschen Literatur herausgestellt, weniger zu Goethe, eher zu Hölderlin, denn viele serbische Dichter zog es seinetwegen an den Neckar, oft zu Trakl und Kafka und insbesondere zu Brecht. In seinem Vorwort merkt Manfred Jähnichen schlicht an: »Dieses Buch will zum Dialog zwischen Deutschen und Serben beitragen.«
Manfred Jähnichen (Hrsg.): Das Lied öffnet die Berge. Eine Anthologie der serbischen Poesie des 20. Jahrhunderts, Gollenstein Verlag Blieskastel, 464 Seiten, 29 Euro
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