Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 2. Oktober 2006, Heft 20

Budapest im September

von Bernhard Romeike

Die Lebensgeschichte des Ferenc Gyurcsány liest sich zunächst wie die etlicher russischer Milliardäre: Er war in der Schlußphase des realen Sozialismus ein Spitzenfunktionär des Kommunistischen Jugendverbandes, wechselte dann in das Fach Privatwirtschaft und brachte es bis zum Milliardär. Da das Land etwas kleiner ist als Rußland: Milliardär nicht in US-Dollar, aber immerhin in Forint. Zu seinen Besitztümern gehören auch die ehemalige Ferieneinrichtung der ungarischen Regierung am Balaton und der Budapester Klub der Parlamentsabgeordneten. Ob er daran verdient, daß dort auch die Abgeordneten der Opposition ihren Feierabendwein trinken, ist schon deshalb eine interessante Frage, weil er derzeit der ungarische Ministerpräsident ist. Nach dem Sturz des 2002 gewählten Ministerpräsidenten Péter Medgyessy von der Sozialistischen Partei hatte er 2004 dieses Amt übernommen und wurde 2006 wiedergewählt. Damit schaffte er als erster Regierungschef nach dem Systemwechsel die Wiederwahl. Alle anderen Regierungen waren nach jeweils einer Wahlperiode abgewählt worden.
Danach hat Gyurcsány, der als hochbegabt, zum Reden untalentiert und mit schwarzem Humor ausgestattet gilt, einen Fehler gemacht. Er hat offen geredet, im Mai, kurz nach der Parlamentswahl, in einer internen Sitzung seiner Fraktion, und ein Tonbandmitschnitt dieser Rede wurde jetzt der Öffentlichkeit zugespielt. Dort hatte er gesagt, die Regierung hätte das Volk zwei Jahre lang belogen, sei nun wiedergewählt worden, und nun müßten die großen Reformen gemacht werden. Es gäbe keine Wahl, weder für die Fraktion noch für die Regierung. Die »Reformen« waren in der Tat weitreichend: massive Preiserhöhungen für Strom, Gas, Wasser und für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, die Erhöhung der Mehrwertsteuer von fünfzehn auf zwanzig Prozent, höhere Rezeptgebühren, Studiengebühren, die Schließung von Nebenlinien der Bahn und die Entlassung von 12000 Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes sowie tausender Lehrer.
Nachdem zehntausende Menschen demonstriert, Randalierer das Gebäude des staatlichen Fernsehens gestürmt und hunderte Autos in Flammen aufgegangen waren, erklärte Gyurcsány, er werde dem »Druck der Straße« nicht weichen, den »Randalierern« nicht nachgeben und seine »Reformpolitik« fortsetzen. Anschließend schob er nach, er habe mit seinen Auslassungen zum Lügen nicht sich und seine Regierung gemeint, sondern Ungarn hätte seit der Wende in einer Lebenslüge, weil über seine Verhältnisse gelebt. So hatten sich die Ungarn allerdings die Freiheit, die Demokratie und die Marktwirtschaft anstelle des Realsozialismus nicht gedacht; sie haben ohnehin bei Umfragen seit Jahren die deutlich positivsten Bewertungen der vorwendischen Zeit.
Die bürgerlichen Medien in Deutschland sind verunsichert. Sie wollen die Unruhen auf die jahrzehntelange Existenz nichtdemokratischer Verhältnisse zurückführen; am Ende ist also wieder »der Kommunismus« schuld. Außerdem würden die Menschen schließlich die Sinnhaftigkeit der »Reformen« verstehen und also teilen. Ein anderes Erklärungsmuster verweist auf den Vorsitzenden der rechten Partei FIDESZ, Viktor Orbán, der die Krawalle anheize, unverantwortlich sei und unbedingt wieder an die Regierung wolle – er war 2002 abgewählt worden.
Den Orbán gibt es gewiß, und er ist ebenso gewiß nicht unappetitlicher als die Kaczynski-Zwillinge, die derzeit Polen regieren. Als Orbán noch regierte, war er gern gesehener Gast der deutschen Konservativen. Jetzt soll er verantwortlich für die Unruhen in Ungarn sein? Auch dies scheint eher vorgeschoben, sind doch die Berichte über die Proteste in Ungarn auf den gleichen Zeitungsseiten zu lesen, auf denen von den sinkenden Vertrauenszahlen in bezug auf die Politik in Deutschland berichtet wird.
Im Herbst 1956 machte der Ungarn-Aufstand deutlich, daß das kommunistische Herrschaftssystem auf einem Geflecht von Lügen beruht und nicht von Dauer sein wird. Etliche der Protestierer von heute versuchen, sich die Hüte von damals aufzusetzen. Die bürgerliche Presse spricht ihnen das Recht dazu ab: Damals sei es doch gegen den bösen Kommunismus gegangen, heute gehe es gegen die gute Demokratie. Aber vielleicht hatte Gyurcsány recht, als er sagte, er habe ohnehin keine Wahl als Regierungschef, weil die Weichenstellungen weit außerhalb Ungarns längst getroffen sind. Und das Volk hat ihn richtig verstanden, weil es ohnehin weder eine Wahl noch eine Alternative hat.
So zeigen die Herbstereignisse 2006 in Ungarn, daß das neoliberal-parlamentarische Herrschaftssystem auf einem Geflecht von Lügen beruht und nicht von Dauer sein wird. Wahrscheinlich spüren dies auch die Zeitungsschreiber hierzulande und reagieren deshalb so nervös.