Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 4. September 2006, Heft 18

Vor den Herbststürmen

von Holger Politt

Sommerzeit ist Gurkenzeit. Auch an der Weichsel. Nachdem Jaroslaw Kaczynski, nunmehr Präsidentenbruder und Premier in einem, nach effektvollem Beginn Anfang August in den Sommerurlaub verschwand, ist im heimatlichen Blätterwald Ruhe eingekehrt. Ruhe vor dem Sturm, denn die im Herbst anstehenden Lokal- und Regionalwahlen könnten zu einer ersten Bestandsaufnahme für das jetzige Regierungslager und vor allem für die seit fast einem Jahr regierende Partei der Zwillingsbrüder werden. Es geht für die wichtigsten politischen Gruppierungen des Landes um die Verankerung in den landesweiten Strukturen, und die steht und fällt mit den sogenannten Selbstvertretungen.
Ein kleines Beispiel: Die in der gegenwärtigen Konstellation in Warschau kaum noch ins Gewicht fallende Bauernpartei PSL ist mit knapp 90000 Mitgliedern der Zahl nach Polens überragende parteipolitische Vereinigung, was sie vor allem ihren starken Positionen in den landwirtschaftlich geprägten Regionen verdankt. Die Kaczynski-Truppe hingegen zählt gerade einmal 15000 Seelen und ist auf eine beträchtliche Erweiterung ihrer Selbstvertretungsbasis angewiesen. Die Frage, wie lange die jetzige Regierungskoalition durchhält, wird im November jedenfalls genauer zu beantworten sein.
Während die Parteien sich allmählich in Stellung begeben, wird die Sommeragenda durch Ersatzthemen bestimmt. War es im letzten Jahr Belorußland, so ist augenblicklich Kuba recht beliebt. Zuletzt gar wurde Alt-Präsident Kwasniewski als Mann ins Gespräch gebracht, der Polens Runden Tisch, der nach dem Kaczynski-Coup hier in Verruf geraten ist, auf die karibische Insel bringen könnte. Ernsthaft! Unterbrochen wurde das Kuba-Thema durch Grass. Doch nachdem geklärt ist, daß Wale˛sa seinem Nobelpreiskollegen aus anderer Sparte wieder die Hand geben mag und ihn nicht mehr einen SS-Mann schelten will, verschwindet das Thema wieder. Die deutsch-polnischen Beziehungen hingegen werden in Abhängigkeit zur innenpolitischen Konstellation ab September an Brisanz gewinnen. Des Ministerpräsidenten kurzer Auftritt in der KZ-Gedenkstätte Stutthof am Tage der Eröffnung der umstrittenen Berliner Ausstellung über Vertreibungen zeigte unmißverständlich die Richtung an. Ausreichender Zustimmung kann er sich sicher sein.
Ansonsten geht in diesen Sommertagen das Gespenst des Antikommunismus um. Neue Nahrung bekam es durch die Ankündigung der Regierung, nunmehr alle IM-Akten aus »kommunistischer Zeit« offenzulegen. Was 1989 durch den »faulen Kompromiß« zwischen Funktionsträgern der Volksrepublik und der Elite der zweiten Solidarnosc verhindert wurde, soll im Interesse eines moralisch gesunden Gemeinwesens nun doch durchgeführt werden. Verwiesen wird dabei gerne auf den beinahe »organischen Gesundungsprozeß« in der DDR beziehungsweise in Ostdeutschland. Aus der Sicht der Kommunistenjäger ist das angesichts der politischen Landschaft dorten aber inkonsequent, denn die Aktenöffnung wird ja als Waffe verstanden, den Weg von Personen mit einer als mißliebig erachteten ideologischen Herkunft in Amt und auf Würden zu verhindern. Einen Präsidenten Kwasniewski hätte es dieser Logik zufolge nicht geben dürfen.
Wenn die Zwillingsbrüder die »Seuche des Kommunismus« bemühen, finden sie Beifall etwa bei Wojciech Kilar, einem der bekanntesten Komponisten des Landes, der unter anderem die Filmmusik zu Polanskis Der Pianist schrieb. Jetzt würden die Dinge endlich beim Namen genannt, gab der Künstler ganz überzeugt zu Protokoll. Er meint die Ansteckungsgefahr. Der verbreitete Hochmut hingegen gegenüber Radio Maryja sei töricht, denn anerkannt werden müsse doch, daß mit dem Radiosender die Beladenen, die Müden, die oft als Hinterwäldler Denunzierten ein ihnen angemessenes Sprachrohr gefunden haben. Das sei wichtig für das Funktionieren der Demokratie und müsse ausgehalten werden.
Nicht nachstehen will da Jan Rokita, der noch immer nicht glauben mag, was da seit bald einem Jahr über die politische Bühne rollt. Der Oppositionsführer wider Willen beschwört die Nationalkonservativen: Wir haben erstmals einen wirklich antikommunistischen Sejm. Wenn wir jetzt die Abrechnung mit dem Kommunismus vergeigen, werden uns das spätere Generationen nicht verzeihen können. Auf unserer Seite stehen die öffentliche Meinung und die Jugend, die beinahe zu hundert Prozent eine endgültige Abrechnung mit dem verbrecherischen System wolle. So der wichtigste Mann der liberalkonservativen Bürgerplattform, die sich in Unterscheidung zu den PiS-Leuten gerne als Garanten bürgerlicher Freiheiten gibt.
Die Flagge eingerollt hat auch die SLD, die rechtzeitig vor der Sommerpause durch einen ihrer stellvertretenden Parteivorsitzenden quasi amtlich verkünden ließ, sie sei eine antikommunistische Partei. Begründet wird es damit, daß Sozialdemokraten per se Antikommunisten sein müßten. Ein »Nichtkommunist« zu sein, reiche da nicht mehr. So hat also auch die Führung der größten sich links verstehenden Partei ihren Wimpel in den Wind gehängt.